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Marburg ist eine Stadt mit Menschen aus 141 Nationen: Weihnachtssingen am Marktplatz mit Goharik Gareyan (Bildmitte unten), langjährige Vorsitzende des Ausländerbeirates, und mit Xiaotian Tang (l.), Marburgs Integrationsbeauftragter der Stadt.
Sylvie Cloutier ist seit Mai 2021 Vorsitzende des Ausländerbeirates

Marburg erfindet sich konstant neu
Vielfalt der Heimat

Marburg international: Die Stadt unterzeichnete 2014 die Europäische-Charta für die Gleichstellung von Frauen und Männern auf lokaler Ebene. Das Foto zeigt die Aktionspläne der Stadt Marburg von 2019 - 2021.
Von Sylvie Cloutier 

Welche Rolle spielen die 800 Jahre Marburg für uns Mitglieder des Ausländerbeirates? Haben die Ausländerinnen und Ausländer ihren Platz in dieser Stadt? Bedeutet das Jubiläum auch für uns, ein Heimatgefühl zu feiern? Können die Ausländerinnen und Ausländer Heimatgefühle für diese Stadt haben oder entwickeln? Dürfen wir als Ausländerinnen oder Ausländer das Wort Heimat überhaupt benutzen, ohne die Last der Vergangenheit zu verleugnen? Lassen uns die Alteingesessenen an ihrem Heimatbegriff teilhaben? Diese Fragen werfen bereits einen Blick auf die Perspektive, die ich hier zeichnen möchte. 

Marburg ist eine bunte Stadt. Vielfalt wird hier gerne gefeiert und von vielen unterstützt. Ein Beweis dafür sind die vielen Gremien, Vereine, kulturellen Organisationen und Institutionen wie das Theater und Projekte dieser Stadt, die sich der Interkulturalität, der Inklusion und der Gleichberechtigung aller Bewohnerinnen und Bewohner widmen. Zum Beispiel hat die Universitätsstadt Marburg unter anderem 2014 die Europäische Charta für die Gleichstellung von Frauen und Männern auf lokaler Ebene unterschrieben. Damit setzt sie sich ein für den „Abbau von starren Geschlechterrollen, von Benachteiligungen und von Diskriminierungen“ (Link) und handelt so für eine bessere Zukunft der Marburgerinnen und Marburger. Im Grunde genommen können wir alle davon profitieren, wenn mehr Anerkennung für Benachteiligte eingeräumt wird. Damit arbeiten wir für die Zukunft unserer Stadt und legen eine gerechte Basis für unser Zusammenleben. Nicht nur in Wort und Schrift, sondern auch als Grundlage zum Handeln.

Das Stadtbild ändert sich schnell, und wir Bewohnerinnen und Bewohner müssen uns fragen, wie das Zusammenleben zwischen den Kulturen, zwischen den Interessengruppen, zwischen den Geschlechtern stattfinden soll. Marburg erfindet sich konstant neu. Vieles ist möglich und das ist gerade spannend.

Mittlerweile wagen immer mehr Ausländerinnen und Ausländer oder eher neue Bewohnerinnen und Bewohner, das Wort „Heimat“ zu benutzen. Es ist ein Stück Aneignung und Ausformung des gemeinsamen Lebensraumes. Es ist die Art zu zeigen, Verantwortung übernehmen zu wollen für die Stadt, in der wir leben.

Von Seiten der Marburgerinnen und Marburger wäre es großzügig, dieses Heimatgefühl mit uns Ausländerinnen und Ausländern zu teilen. Wie in einer Ehe, mit allen Herausforderungen und für „gute und schlechte Zeiten“. Das hat zum Beispiel die Jüdische Gemeinde und der Magistrat der Universitätsstadt Marburg, ohne die Last der Geschichte mildern zu wollen, vor ein paar Jahren getan, indem sie uns Mitgliedern des Ausländerbeirates die Möglichkeit gegeben hat, an der Ausstellung im Garten des Gedenkens 2018 teilzunehmen. Wir wurden gebeten, unsere Gedanken über die Zerstörung der alten Marburger Synagoge durch das Nazi-Regime 1938 in Schriftform niederzulegen. Unsere Gedanken und Zitate waren ein Jahr lang zu lesen in den Zettelkästen im Garten des Gedenkens, wo vor 1938 die Marburger Synagoge stand. Das war für uns der wichtige Ausdruck unserer Solidarität mit der Jüdischen Gemeinde in Marburg. Heute verstehen wir unsere Teilnahme an der Aktion als Zeichen unserer Akzeptanz hier in Marburg, als Ausländerinnen und Ausländer Teil dieser Heimat zu sein.

2020 war die Islamische Gemeinde Marburg an der Reihe, ihre „persönlichen Erfahrungen mit den Themen Ausgrenzung, Rassismus und der Erinnerung an den Holocaust“ (Link) niederzulegen. Genau dass dies möglich wurde, ist ein Zeichen der Anerkennung und des kulturellen Miteinanders in Marburg. Ein Zeichen, dass wir Menschen mit internationaler Biographie, Menschen mit sichtbaren Merkmalen unseres Nicht-Deutsch-Seins, uns für das gute Miteinander einsetzen können und uns dementsprechend zu Hause fühlen dürfen. Dafür ist der Ausländerbeirat Marburg dankbar. So hat uns die Stadt Marburg gezeigt, dass auch wir Ausländerinnen und Ausländer gebeten werden, uns mit unserer Stadtgeschichte und der neuen Heimat auseinanderzusetzen. Dadurch ist uns klarer geworden, dass auch wir dazu gehören, nämlich zu einer gemeinsamen Heimat, an der wir alle teilhaben. Und für diese Heimat haben wir Gefühle, Anteilnahme und Verantwortung für die Zukunft, ganz im Sinne der drei Mottos unseres Stadtjubiläums „Marburg erinnern, Marburg erleben und Marburg erfinden“.

 

Sylvie Cloutier

  • Geboren 1968 in Montréal, Kanada.
  • Studium Politikwissenschaft sowie die Arabische Sprache in Montréal, Master in Business Management in London.
  • Ausbildung zur Erzieherin in Marburg.
  • Seit November 2021 stellv. Leiterin des Evangelischen Kinderhorts Barfüßertor.
  • Verheiratet, drei Kinder: 25, 20 und 16 Jahre.
  • Vorstandsmitglied des Fördervereins für das Marburger Kultur- und Bildungszentrum mit Moschee
  • Seit 2015 Mitglied des Ausländerbeirates Marburg und seit Mai 2021 dessen Vorsitzende.
© Januar 2022 - marburg800