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Romantikerin Bettina von Arnim lebte von 1805 - 1806 bei ihrer Schwester und deren Mann in Marburg.
Elisabeth Selber studierte Rechtswissenschaften in Marburg und kämpfte später für die Gleichberechtigung im Grundgesetz.

800 Jahre Marburger Frauengeschichte
Bedeutende Frauen aus 800 Jahren Stadtgeschichte

Christa Czempiel († 2007 in Marburg), Politikerin.
Von Marita Metz-Becker

Anlässlich des Jubiläumsjahres 2022 schaut die Stadt Marburg auch zurück auf bedeutende Frauenpersönlichkeiten durch 800 Jahre Stadtgeschichte. Vielen wurden Bauwerke, Denkmäler und andere Erinnerungszeichen für ihre besonderen Verdienste und Lebenswege zugeeignet, mit denen sie im Stadtbild präsent und im kulturellen Gedächtnis der Stadt verankert sind. 

Vom Mittelalter, als die heilige Elisabeth sich in Marburg aufhielt, bis zur jüngeren Gegenwart, in der Frauen wie Christa Czempiel, Ingrid Langer oder Louisa Biland in Politik, Wissenschaft oder Kunst von sich reden machten, reicht der zeitliche Bogen hervorgetretener Frauen, die ihre ganz besonderen Lebensspuren hinterlassen haben.

Romantikerin Bettina von Arnim (geb. Brentano).

 

Bedeutende Frauen der Romantik

Dabei tauchen auch Namen auf, die heute kaum noch im Bewusstsein sind, obwohl sie in ihrer Zeit sehr bedeutend waren, wie etwa Johanna Wyttenbach, eine Intellektuelle des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der die Universität Marburg schon vor Einführung des allgemeinen Frauenstudiums den philosophischen Doktortitel verlieh. Oder Lieschen Hoffmann, die Tochter eines Handschuhmachers, die als „Retterin des Weidenhäuser Grabenlandes“ in die Stadtgeschichte Eingang fand.

Frauen aus der Epoche der Romantik wählten Marburg im 19. Jahrhundert zu ihrem Aufenthaltsort, wie Caroline Schlegel-Schelling, Sophie Mereau oder Bettina Brentano, nach der man den alten Stadtmauerturm im Forsthofgarten benannte.

Ein Jahrhundert später engagierten sich Marburgerinnen nach dem Zweiten Weltkrieg jenseits ideologischer Grabenkämpfe im überparteilichen Frauenverband, wie die Schneiderin Cilly Schäfer, Kommunistin und Widerstandskämpferin; Luise Berthold, Marburgs erste und über 30 Jahre einzige Professorin an der Philipps-Universität, oder Lisa de Boor, Schriftstellerin und Anthroposophin, in deren Wohnzimmer im November 1945 der Verband mit insgesamt acht Frauen gegründet wurde.

Spagat zwischen Beruf, Familie und Engagement

Bei fast allen Frauen findet sich der Spagat zwischen Beruf, Familie und gesellschaftspolitischem Engagement, zwischen Anpassung an männliche Normen und Ausbruch aus der traditionellen Geschlechterrolle. Es sind Frauen, deren Biographien geprägt sind durch Verhinderung von Bildung, Ausbildung und Berufsausübung, von Vorenthaltung des aktiven und passiven Wahlrechts, von Vorurteilen und Diskriminierung, die aber auch diesem Bollwerk von Benachteiligung zum Trotz die soziale, kulturelle, intellektuelle, wirtschaftliche und politische Entwicklung durch die Jahrhunderte hinweg mitbestimmt und vorangetrieben und den Weg für kommende Generationen geebnet haben.

Ein Blick auf die Universitätsgeschichte zum Beispiel zeigt, wie sich die ersten Studentinnen im Winter 1908 — oftmals gegen erbitterte Widerstände von vielen Seiten — den Zugang zur Alma Mater erkämpfen mussten. Doch der Kampf lohnte sich, konnten doch jahrhundertealte patriarchalische Strukturen aufgebrochen werden, sowohl was den Lehr- und Verwaltungskörper als auch die Inhalte der Wissenschaft betraf. Im Jahr 1870 hatte der Marburger Historiker Heinrich von Sybel es noch für unwahrscheinlich gehalten, dass es je weibliche Professoren und Regierungspräsidenten geben würde; hundert Jahre später war dies trotz aller Unkenrufe längst eingetreten, wenn auch zahlenmäßig noch nicht sehr überzeugend.

In ihrer Autobiographie "Erlebtes und Erkämpftes" schreibt Luise Berthold über ihre Universitätskarriere in Marburg.

Weg an die Universität erkämpft

Buchtitel Luise Berthold — Antrittsvorlesung Sprachatlas 1927

Luise Berthold (1891–1983) weiß davon in ihrer Autobiographie „Erlebtes und Erkämpftes“ zu berichten. Der aus kleinen Verhältnissen stammenden Berliner Beamtentochter war eine Universitätskarriere am Deutschen Sprachatlas nicht in die Wiege gelegt. Dennoch hielt sie am 8. Dezember 1922 an der Philipps-Universität ihre Antrittsvorlesung, nach immensen Schwierigkeiten, die sie als Studentin und junge Wissenschaftlerin zu meistern hatte. Während der NS-Zeit war sie Mitglied der Bekennenden Kirche, nach 1945 gehörte sie zum „Team der unbelasteten Dozenten“, dem die Amerikaner erlaubten, den neuen Rektor und Prorektor zu wählen. Außerdem war sie bis 1949 Mitarbeiterin in einer der Spruchkammern zur Entnazifizierung. Ihr wissenschaftliches und politisches Engagement wurde mit zwei Ehrendoktorwürden, der Goethe- und Freiherr-vom-Stein-Plakette sowie der Wilhelm-Leuschner-Medaille und dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt. An ihrem Wohnhaus in der Ockershäuser Allee befindet sich eine Erinnerungstafel für die couragierte Wissenschaftlerin.

Elisabeth Selbert und das Grundgesetz.

 

Elisabeth Selbert und das Grundgesetz

Für den Kampf um Gleichberechtigung der Geschlechter steht auch Elisabeth Selbert (1896–1986), die 1929 in einer Rekordzeit von sechs Semestern das Erste Juristische Staatsexamen in Marburg ablegte, gleich darauf promovierte und als Rechtsanwältin und Sozialdemokratin 1948 in den Parlamentarischen Rat gewählt und nach Bonn entsandt wurde. Unter den 65 Mitgliedern gab es nur vier Frauen, und Elisabeth Selbert erreichte nach mehreren gescheiterten Abstimmungen, dass die von ihr vorgeschlagene Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Artikel 3 GG) ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Das Land Hessen verleiht ihr zu Ehren in zweijährlichem Turnus den Elisabeth-Selbert-Preis als Auszeichnung für Männer und Frauen, die sich für die Verwirklichung der Chancengleichheit in der Gesellschaft einsetzen.

Ingeborg Weber-Kellermann schrieb über
das Frauenleben im 19. Jahrhundert.

 

Ehrung durch Gedenktafeln

Eine über Grenzen hinweg bekannte Professorin der Philipps-Universität war die Kulturwissenschaftlerin Ingeborg Weber-Kellermann (1918–1993). Sie war maßgeblich an der Umgestaltung ihres Faches Volkskunde zur sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Europäischen Ethnologie/Kulturwissenschaft beteiligt. Auch hochschulpolitisch trat sie hervor, als sie Ende der 1960-er Jahre in ihrer Funktion als Dekanin für eine strukturelle Neuordnung des Hochschulwesens und ein modernes Hochschulrecht kämpfte, womit das Ende der alten Ordinarienherrlichkeit eingeläutet war. 

 

Die Gedenktafel für Ingeborg Weber-Kellermann in der Marburger Wilhelmstraße.

 

Ingeborg Weber-Kellermann betrieb Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm, sondern sah in ihrer Lehr- und Forschungsarbeit auch gesellschaftspolitische Verantwortung. Die Förderung von Frauen in der Wissenschaft lag ihr ganz besonders am Herzen. Vor allem mit ihrer viel beachteten internationalen Film- und Ausstellungsarbeit brach sie ein Tabu männlicher Gelehrsamkeit, die sich am liebsten in den strengen Formen wissenschaftlicher Disputation bewegte. Im Jahr 1985 wurde sie mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille, der höchsten Auszeichnung des Landes Hessen, für dieses Lebenswerk geehrt. Die Stadt Marburg widmete ihr eine Gedenktafel an ihrem Wohnhaus in der Wilhelmstraße 19.

Die hier nur schlaglichtartig aus der Frauen- und Geschlechterperspektive angerissenen Biographien zeigen Frauen als wirkmächtige Akteurinnen der Geschichte ebenso wie das sich durch Jahrhunderte ziehende Ringen um Gleichberechtigung, das bis heute andauert.

 

Prof. Dr. Marita Metz-Becker

Professorin am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg.

Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Medikalkulturforschung, Biographieforschung, Frauen- und Geschlechtergeschichte.

Sie hat in diesen Forschungsgebieten sowohl einschlägige Publikationen vorgelegt als auch zahlreiche Ausstellungsprojekte kuratiert.

Marita Metz-Becker ist Erste Vorsitzende des Marburger Hauses der Romantik.

© Januar 2022 - marburg800