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Bodenleitsystem am Busbahnhof vor dem Bahnhof Marburg. Marburg ist bundesweit Vorreiter in Stadtplanung für Menschen mit Behinderung.

Über die Grenzen bekannt
Inklusion in Marburg – eine lange Tradition und ein Ansporn für die Zukunft

Marburger Schloss als 3D-Tastmodell am Schloss
Von Kerstin Hühnlein 

Die Universitätsstadt Marburg ist als behindertenfreundliche Stadt inzwischen über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, nicht zuletzt dadurch, dass Marburg als eine von vier Städten in Europa die Endrunde für den europäischen Preis für behindertenfreundliche Städte „Access City Award 2012“ erreicht hat und als Finalistin ausgezeichnet wurde. 

Geprägt durch eine aktive Behindertenbewegung, die Deutsche Blindenstudienanstalt und die Bundesvereinigung Lebenshilfe hat in Marburg frühzeitig ein Umdenken in der Politik und Verwaltung der Stadt in Bezug auf die Belange von Menschen mit Behinderungen stattgefunden. So kam es, dass die Stadt Marburg schon lange vor Einführung gesetzlicher Regelungen begonnen hat, Behindertenbelange in allen Lebensbereichen mitzudenken und Maßnahmen für ein barrierefreies Marburg umzusetzen. 

Stadtpolitik für Menschen mit Behinderung 

Bereits 1980 wurde eine Stelle für Behindertenbelange eingerichtet, die dieses Anliegen vorantrieb. Feste politische Rahmenbedingungen wurden 2002 mit dem Beschluss „Barrierefreies Marburg“ , der Unterzeichnung der Erklärung von Barcelona und der Bremer Erklärung im Jahr 2003 sowie mit der freiwilligen Übernahme des Hessischen Behindertengleichstellungsgesetzes für die kommunale Ebene in 2005 geschaffen.

Mit dem Langstock erkennbares Bodenleitsystem an den Gleisen

 

Möglichkeiten der politischen Mitwirkung 

Dass eine gute Behindertenpolitik nur unter Einbeziehung der Betroffenen gelingen kann, war von Anfang an im Bewusstsein der Verantwortlichen. Auf Initiative einer Gruppe behinderter Menschen wurden die Rahmenbedingungen für die Wahl des ersten Behindertenbeirates im Jahr 1997 geschaffen. Seitdem berät und unterstützt der Beirat den Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung in allen wichtigen Angelegenheiten, die Menschen mit Behinderungen und deren Belange betreffen.

Marburger Beteiligungsmodell

Kurz nach der Einrichtung des Behindertenbeirates wurden Runde Tische zu Tief- und Hochbauprojekten ins Leben gerufen, die aus einer bereits bestehenden Zusammenarbeit zur Abstimmung von Bau- und Verkehrsprojekten hervorgingen. Bei diesen Runden Tischen treffen sich Mitglieder des Behindertenbeirates, Mitarbeiter*innen der städtischen Verwaltung und der Deutschen Blindenstudienanstalt sowie weitere Interessierte, um jeweils 2- bis 3-mal im Jahr aktuelle Bauprojekte zu besprechen.

Georg Kronenberg

Schüler*innen der Blindenstudienanstalt Marburg "wohnen inmitten der Stadt".
Das Marburger Modell ist seit den 1970er Jahren international bekannt.

Denkmalschutz und Barrierefreiheit ist möglich 

Das Gremium begleitet städtische Neu- und Umbauprojekte, um Barrierefreiheit bestmöglich umzusetzen. Das Marburger Beteiligungsmodell hat sich bewährt, gerade auch um Einzelfalllösungen im Zielkonflikt zwischen Denkmalschutz und Barrierefreiheit zu finden oder wenn sich die Bedürfnisse unterschiedlicher Behindertengruppen entgegenstehen.

Teilhabe für alle Bürger*innen

Die Stadt Marburg hat sich zum Ziel gesetzt, das „Design for All“ umzusetzen, um ein selbstbestimmtes Leben und die gleichberechtigte Teilhabe für alle Bürger*innen zu ermöglichen. Dies bedeutet die Umsetzung baulicher Barrierefreiheit auf den Wegen durch die Stadt ebenso wie in allen städtischen Gebäuden. Durch politische Beschlüsse werden in Marburg beim sozialen Wohnungsbau mehr barrierefreie Wohnungen geschaffen als gesetzlich vorgesehen und barrierefreie Umbauten in bestehenden Wohnungen finanziell gefördert.

In Marburg gibt es Akustische Signale an Ampeln seit 1971

 

Marburg der Zeit voraus

Viele Standards wurden in Marburg bereits umgesetzt, bevor sie in die entsprechenden Vorschriften aufgenommen wurden. Leitsysteme, Aufmerksamkeitsfelder, Tastmodelle und akustische Signale sind heute in Marburg selbstverständlich, genauso wie barrierefreies Internet und sprechende Aufzüge.

Kostenübernahme von Gebärdendolmetscher*innen für Gespräche mit Stadtverwaltung Marburg

 

Teilhabe aller Behindertengruppen 

Waren anfangs v.a. Menschen mit körperlichen Einschränkungen und Menschen mit Seheinschränkungen im Blickfeld, so wurden im Laufe der Jahre die Teilhabemöglichkeiten für alle Behindertengruppen durch Beschlüsse und Maßnahmen verbessert. Zum Beispiel werden seit 1998 die Gebärdensprachdolmetschkosten bei Kontakten von gehörlosen Bürger*innen mit der Stadtverwaltung Marburg übernommen.

Gebärdensprache und Leichte Sprache 

Mittlerweile finden die besonderen Bedürfnisse von hörbehinderten und gehörlosen Menschen bei städtischen Veranstaltungen generell Berücksichtigung durch fest installierte Induktionsschleifen oder eine mobile FM-Anlage bzw. den Einsatz von Gebärdensprachdolmetscher*innen.

Marburg hat als eine der ersten Städte in Deutschland Internetseiten in Leichter Sprache bereitgestellt, nachdem 2007 die Umsetzung Leichter Sprache durch die Politik beschlossen wurde. Inzwischen werden wichtige Informationen für Bürger*innen zunehmend auch in Leichter Sprache zur Verfügung gestellt.

Preise für Ideen und Innovationen 

Um auch innovative Projekte und Ideen zur Verbesserung der Barrierefreiheit, Inklusion und Teilhabe in Marburg zu unterstützen, verleiht die Universitätsstadt Marburg seit 2012 im Zweijahresrhythmus den Jürgen-Markus-Preis, der ausgewählte Ideen und Projekte mit 20.000 Euro Preisgeld belohnt.

Ein Blick in die Zukunft 

Weil Inklusion und Teilhabe in der Stadt Marburg zu einer Selbstverständlichkeit geworden sind, wird die Stadt Marburg auch in Zukunft weiter daran arbeiten, selbstbestimmtes Leben in Marburg in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Deshalb soll auch das Jubiläum Marburg800 ein Fest für alle werden.

Kerstin Hühnlein ist im Fachdienst Soziale Leistungen,
Behindertenhilfe der Stadt Marburg tätig.
(Foto: Heike Döhn)

 

Kerstin Hühnlein 

Diplom-Pädagogin mit Schwerpunkt Heil-und Sonderpädagogik, seit 1999 bei der Stadt Marburg zuständig für die Belange von Menschen mit Behinderungen (Behindertenhilfe)

© Januar 2022 - marburg800