8 Inspirationen für Marburg800

Von Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies

800 Jahre Marburg, das bedeutet für uns: 800 Jahre, gefüllt mit Geschichte, mit Erzählungen, mit Traditionen. 800 Jahre Marburg bedeutet immer auch ein Rückblick auf die Vergangenheit. Doch wir wollen dieses ganz besondere Stadtjubiläum auch zum Anlass nehmen, nach vorne zu schauen, uns Gedanken über die Zukunft zu machen. Wir wollen gemeinsam Marburg erfinden. Einige Inspirationen der vergangenen Monate und Jahre begleiten mich in diesem Zukunftsprozess, und ich hoffe, liebe Leser*innen, dass sie auch Ihnen Denkanstöße geben, und dass wir Marburg in den nächsten Jahrzehnten – oder gar Jahrhunderten - sogar noch lebenswerter gestalten können

1. Von der heiligen Elisabeth bis ins Ahrtal

Soziales Engagement für die Nächsten in Not scheint mir ein besonderes Merkmal unserer Stadt. Das beginnt mit der Erzählung, den Legenden und Geschichten über die Heilige Elisabeth und endet nicht mit den ganz normalen Menschen, die sich von den Schicksalen ihrer Mitmenschen rühren lassen. So wie der Lastwagenfahrer Ralf Kalabis-Schick, der 2021 spontan und ehrenamtlich ungeheure Hilfslieferungen und Unterstützung für die Opfer der Überschwemmungen im Ahrtal auf die Beine gestellt hat.

Gerade in der Corona-Krise konnten wir eine ungeheure Hilfsbereitschaft erleben. Das galt für all die Pfleger*innen und Ärzt*innen, die Tag und Nacht im Einsatz waren und sind, aber genauso für die vielen ehrenamtlichen Helfer und ihre spontane Hilfsbereitschaft. Das bestätigt mich immer wieder in der tiefen Überzeugung, dass den allermeisten Menschen das Schicksal ihrer Mitmenschen wichtig ist. Die Fülle der Ideen und Kreativität in der Hilfe für andere ist ein wichtiger Ansporn – und zeigt, wie gegenwärtig das Erbe der Heiligen Elisabeth seit acht Jahrhunderten in unserer Stadt ist.

2. Jan Gehl und „Städte für Menschen“

Als ich Oberbürgermeister wurde, da schenkte mir meine Frau das Buch „Städte für Menschen“ des international renommierten Stadtplaners und Architekten Jan Gehl und sagte: „Das solltest du umsetzen.“ Sein Credo ist eigentlich ganz einfach – und eigentlich ganz selbstverständlich: Städte müssen so geplant werden, dass sie für Menschen gemacht sind. Städte sind lebendig, wenn Menschen sich dort gerne aufhalten, Städte sind lebenswert, wenn Stadtplanung und Architektur nicht in schönen Modellen denken, sondern immer die Perspektive von Menschen einnehmen, vor allem von Kindern und älteren Menschen.

2021 kam Jan Gehl selbst nach Marburg und diskutierte mit den Bürger*innen, Fachleuten und Studierenden. Seine Vorträge und Diskussionen haben uns viel Inspiration und Aufgaben für die Zukunft mitgegeben. Städte für Menschen sind Städte mit viel Aufenthaltsqualität, zu Fuß gut durchstreifbar, in denen auch ältere und mobilitätseingeschränkte Menschen ihren Platz finden, mit einer angemessenen Gebäudehöhe und Gestaltung, in denen es viel Grün gibt. Kurz gesagt: Es sind Städte mit einem guten Klima – in jeder Hinsicht.

3. Matthias Horx und die „Progressive Provinz“

Progressive Provinz? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Und wollen wir unsere Stadt als Provinz bezeichnen lassen? Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat uns im Rahmen der Zukunftsreihe Marburg erfinden diesen Begriff mitgebracht. Und für Marburg passt „progressive Provinz“ eigentlich ziemlich gut. Marburg ist sicher eine kleinere Stadt, in der jede*r jede*n kennt, in der wir uns nahe sind. Ein gutes Klima im direkten Kontakt und gleichzeitig eine einzigartige Innovationsbereitschaft. Uns ist selbst oft gar nicht bewusst, wie innovativ das Denken und Handeln in Marburg schon ist. Verkehrswende, sparsame Bodenversiegelung, öffentliche Verantwortung statt Privatisierung, Digitalisierung, moderne Sozialplanung – all diese Themen werden in Marburg schon lange umgesetzt, während sie andernorts noch diskutiert und in Frage gestellt werden.

Die Denk- und Diskussionsdichte kleinerer Städte (und unsere guten Finanzen) schaffen ein Klima und die Möglichkeiten, mit denen kleinere Städte vorangehen können, neues ausprobieren, gesellschaftliche Innovation in die Tat umsetzen können. „Progressive Provinz“ zu sein, das ist ein großes Kompliment und eine Verpflichtung: Zwar klein, aber fortschrittlich, zwar weltoffen, aber mit engen nachbarschaftlichen Verbindungen. Ich denke, das können wir uns gut auf die Fahne (oder das Wappen) schreiben.

4. Die Äbtissin M. Mechthild Thürmer und die Aktiven in der „Seebrücke“

2021 durfte ich bei der Verleihung des Göttinger Friedenspreises die ehrwürdige Mutter Äbtissin M. Mechthild Thürmer kennenlernen, die gemeinsam mit der „Seebrücke“ und mir (stellvertretend für die Bürger*innen unserer Stadt) für das Engagement für geflüchtete Menschen ausgezeichnet wurde. Wir waren eine der ersten Städte, die sich als „Sicherer Hafen“ erklärten, und sind auch weiterhin im Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ aktiv. Wir zeigen immer wieder auch gegenüber Bundes- und Landesregierungen: Wir haben Platz. Wir stellen Menschlichkeit an erste Stelle.

Äbtissin Thürmer wird derzeit wegen der Gewährung von Kirchenasyl für geflüchtete Menschen strafrechtlich verfolgt. In ihren Dankesworten für den Preis fasste sie ihre Haltung sehr klar und einfach zusammen: „Als dieses junge Paar vor mir stand, da dachte ich: Jesus hätte ihnen auch geholfen.“

Diese Klarheit, was unseren Werten entspricht und was nicht, diese unzweideutige Formulierung des ethischen Anspruchs, für einander einzustehen, hat mich sehr beeindruckt. Sie erinnerte mich an einen Satz Sartres: Richtig wäre es, wenn wir immer die Situation der Schwächsten in unserer Gesellschaft zum Maßstab machen. Genau so möchte ich, dass wir die Zukunft unserer Stadt ausrichten: immer an denjenigen, die unserer Unterstützung am meisten bedürfen.

5. Emil von Behring und BioNtech

Wissenschaftliche Brillanz, unternehmerisches Engagement und ein Anspruch, etwas zu schaffen, das den Menschen nützt – das verbindet die großen Entwicklungen der Wirtschaftsgeschichte unserer Stadt, von Emil von Behring bis zu der Entwicklung der Impfstoffe gegen Corona. Mit vorsichtigem Stolz blicken wir auf die Forschung und auf die Firmen, denen es in Rekordzeit gelungen ist, Impfstoffe herzustellen – auch in Marburg.

Die Behringwerke, Impfstoffproduktion, Innovation und Forschung, das sind ebenso wesentliche Bestandteile unserer Stadt wie der Rathaushahn. Diese Lektion sollten wir mit in die nächsten Jahrhunderte nehmen.

6. Egon Vaupel, Hanno Drechsler, Dietrich Möller und Georg Gassmann – Politik in Generationen denken

Wenn ich auf die Reihe meiner Vorgänger, die ich alle selbst erlebt habe, zurückblicke, dann wird eines besonders deutlich: Sie alle mussten aktuelle Herausforderungen lösen, und sie haben dabei immer die langfristigen Folgen für die Stadt im Blick. Sich im täglichen Trubel ein Stück zurücknehmen und Dinge zu Ende denken – dass sollte ein Maßstab für unsere Stadt sein.

Georg Gaßmann, der Antifaschist und NS-Verfolgte, der nach dem Krieg so klar für Demokratie und Aufarbeitung eintrat und der die große Wohnungsnot der Nachkriegszeit mit entschlossenen Entscheidungen beseitigte. Hanno Drechsler, der in Marburg schon vor 50 Jahren die Verkehrswende eingeleitet hat, als er die Schönheit unserer Stadt, vor allem der Altstadt, vor dem Wahn der autogerechten Stadt bewahrte. Dietrich Möller, dessen Wirtschaftspolitik wichtige Grundlagen für unseren heutigen Wohlstand gelegt hat. Und natürlich Egon Vaupel, der Marburg zum sozialen Herz Deutschlands erklärte und daran die Politik der Stadt ausrichtete: Teilhabe für alle. Sie alle haben – auch mit solider Finanzpolitik – immer die langfristige Zukunft unserer Stadt im Blick gehabt.

7. „Jetzt macht doch einfach mal!“ – Fridays for Future und der Klimaschutz

2019 sind allein in Marburg tausende junger Menschen auf die Straße gegangen, um sich dem „Schulstreik für das Klima“ anzuschließen – auf der ganzen Welt waren es Millionen. Sie haben etwas Einzigartiges geschaffen: einen politischen Point of no return, einen Umschlagpunkt. Denn eigentlich waren uns die herannahende Klimakrise und die notwendigen Konsequenzen seit langem bekannt. Aber erst jetzt nimmt die Klimakrise im öffentlichen und politischen Bewusstsein den Raum ein, der ihr gebührt und der nötig ist, um konsequent handeln zu können.

Diese jungen Leute bringen viel Leben in die Diskussion. Sie lassen sich nicht von Sätzen wie „Das geht nicht, weil …“ oder „Das haben wir schon probiert“ abschrecken. Sie fordern neue Ideen und neue Ansätze ein, und sie bringen diese Ideen auch gleich mit. Sie fordern Taten statt Bekenntnissen: „Jetzt macht einfach mal!“

Diese Leidenschaft, diese Energie finde ich ungeheuer inspirierend. Sie schafft eine ganz neue Dynamik. Mit so viel Rückenwind, mit so vielen Ideen werden wir große Veränderungen schaffen und das Leben für die Menschen besser und nicht schlechter machen können. Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.

Oder wie unsere Landrätin Kisten Fründt einmal sagte: Und klar ist: Machen ist wie wollen, nur krasser.

8. Feuerwehrleute, Lahntaucher, Sport und Kultur – was sie verbindet

Die zahlreichen Menschen, die sich in unserer Stadt ehrenamtlich für das „gemeine Wohl“ einsetzen, inspirieren mich immer wieder. Seien es die ehrenamtlichen Rettungskräfte bei der Feuerwehr, der DLRG und dem THW, die ihre Freizeit und manchmal auch Gesundheit und Leben für andere riskieren. Seien es die Lahntaucher, die spontan anfingen, unsere Fluss-Idylle von versunkenem Abfall zu befreien, oder die zahlreichen ehrenamtlich engagierten Menschen in sozialen Einrichtungen, Vereinen und Initiativen.

Weder unser Sportangebot noch das reiche Kulturprogramm unserer Stadt wäre ohne Bürger*innensinn vorstellbar. Und auch unser Stadtjubiläum lebt vom Engagement der Menschen in unserer Stadt. Sie erwarten kein Fertigpaket, sondern beteiligen sich am gemeinsamen Fest.

Das ist Bürger*innenbeteiligung im besten Sinne, wenn Menschen eigenverantwortlich Aufgaben für das Gemeinwesen übernehmen. Dieses Engagement gibt mir ein ungeheures Vertrauen in unser Gemeinwesen und in eine Politik, die darauf setzt, zuzuhören und die Stadt gemeinsam mit den Menschen, die hier leben, ihrer Klugheit und ihrer Kreativität zu entwickeln.

Am wichtigsten scheinen mir aber die Kunst, das Anders-Denken, verrückte Ideen, die alles Gewohnte in Frage stellen, knallbunt und manchmal skurril, als Inspiration und Anregung, immer wieder über den Tellerrand hinauszusehen.

© Januar 2022 - marburg800