Ausstellung im Staatsarchiv
Marburg im 13. Jahrhundert: Baustellen einer Stadtwerdung
Im Jahr 2022 feiern wir 800 Jahre Stadt Marburg, weil die älteste erhaltene schriftliche Bezeichnung Marburgs als „Stadt“ (civitas) aus dem Jahr 1222 stammt.1 Nun ließe sich einwenden, ob es sich nicht um eine etwas willkürliche Setzung des Jubiläumsdatums handelt? Ist nicht davon auszugehen, dass Marburg schon viel länger Stadt war? Oder aber in die andere Richtung denkend: War Marburg ‚wirklich‘ schon eine Stadt, weil die Chronisten sie als eine bezeichnet haben? Beide Einwände sind natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen, aber so ließe sich ganz allgemein darauf erwidern, dass konkreten Jubiläumsdaten natürlich immer eine gewisse Willkürlichkeit innewohnt, wenn es um so komplexe Prozesse wie „Stadtwerdung“ geht. Hier kann jedoch für Marburg festgehalten werden: Plätscherte die Entwicklung der Stadt vor 1222 dahin, so explodierte die Stadtentwicklung im 13. Jahrhundert, d.h. in der Zeit von 1222 bis ca. 1300. Das Jahr der Stadtersterwähnung markiert somit den Auftakt für die mittelalterliche ‚Boomtown‘ Marburg. Nachfolgend sollen diese zentralen Entwicklungsschritte schlaglichtartig vorgestellt werden.
Marburg im 13. Jahrhundert
Zunächst einmal stellt sich die Frage, wodurch Marburgs Entwicklung im 13. Jahrhundert einen so starken Schub erhält? Hier ist zunächst festzuhalten, dass sich Marburg am Fuße des Schlosses in starker Abhängigkeit von der jeweiligen Landesherrschaft entwickelte. Es gab hier, anders als z.B. in den Hansestädten, keine reiche Kaufmannschaft oder ein Bürgertum, welches aufgrund der günstigen Verkehrslage an Fernhandelswegen auf Ausweitung der eigenen Rechte drängte. Aus diesem Grund hängt Marburgs explosionsartige Entwicklung auch stark mit den Entwicklungen des jeweiligen Herrscherhauses zusammen. Im 13. Jahrhundert sind hier vor allem zwei ganz markante Ereignisse zu nennen: Zum einen wird Marburg der Witwensitz der Elisabeth von Thüringen. Nach ihrem Tod in Marburg und ihrer rasch danach erfolgten Heiligsprechung im Jahr 1235
avanciert Marburg zu einem Zentrum der Elisabethverehrung. Elisabeths Tochter wiederum, Sophie, heiratet in das einflussreiche und vermögende Haus Brabant ein. Als Sophie von Brabant fördert sie die Entwicklung Marburgs zunächst im Andenken an ihre Mutter und in der Folge, um ihren Sohn Heinrich bezüglich der Herrschaftsnachfolge der Landgrafen von Thüringen zu stärken. Sophie gelingt es im folgenden hessisch-thüringischen Erbfolgekrieg (1247–1264) für ihren Sohn Heinrich die Unabhängigkeit Hessens zu erstreiten. Heinrich wurde damit erster Herrscher der neuen Landgrafschaft Hessen, die 1292 offiziell reichsrechtlich anerkannt wurde. Mit seinem Herrschaftsantritt wird Marburg somit erstmals landesherrschaftliche Residenzstadt.
Von der Ortschaft zur Stadt
Doch was kennzeichnet eigentlich eine Stadt im 13. Jahrhundert? Hier sind es vor allem rechtliche (Bürgerrecht, Gerichtsbarkeit, Selbstverwaltung, Recht auf Besteuerung), wirtschaftliche (Markt, Münzrecht,) und bauliche Kriterien (Stadtmauer und dichte Bebauung) sowie eine zentralörtliche Funktion (z.B. als wirtschaftliches, herrschaftliches oder religiöses Zentrum) zu nennen. Wie fanden nun diese landesherrschaftlichen Ereignisse ihren baulichen, rechtlichen, wirtschaftlichen und religiösen Niederschlag? Avancierte Marburg zu einem herrschaftlichen Zentrum?
Beginnen wir mit der baulichen Entwicklung im 13. Jahrhundert, dann ist zunächst festzuhalten, dass es zwar einen Marktplatz mit einer Ummauerung bereits vor 1222 gegeben haben muss. Im 13. Jahrhundert hat aber eine deutliche Erweiterung und ein Ausbau stattgefunden, wofür etwa der Bau der Weidenhäuser Brücke stand, der die Vorstadt Weidenhausen mit Marburg verband und damit neue Entwicklungsmöglichkeiten schuf. Auch im kirchlichen Bereich hatte schon um 1200 mit dem durchaus aufwändigen Bau der späteren Pfarrkirche auf einem eigenen Plateau (heute Lutherische Pfarrkirche St. Marien) ein zentrales Bauprojekt begonnen. Mit dem Auftreten und der Heiligsprechung Elisabeths waren nun zahlreiche weitere bauliche Entwicklungen verbunden, die daran anknüpften: Zu nennen ist hier die Gründung und der Bau des Hospitals sowie der Baubeginn der Elisabethkirche, bereits kurz nach der Heiligsprechung Elisabeths. Insgesamt sind nicht alle baulichen Entwicklungen insbesondere bezüglich der Stadtmauer und des Marktes ganz genau zu datieren. Fest steht aber, dass nach 1250 das Stadtgebiet auf jeden Fall mehr als 10 ha umfasste und Mauer und Türme erheblich ausgebaut wurden.
Ähnliches gilt für die wirtschaftliche Entwicklung, denn Marburg besaß bereits seit dem 12. Jahrhundert ein eigenes Münz- und Marktrecht, über dessen Ausweitung wir im 13. Jahrhundert nicht genau informiert sind. Aber allein der Ausbau des Marktes und die begonnenen neuen Kirchenbauten in der Stadt, werden die wirtschaftliche Entwicklung befördert haben. Zumindest wissen wir durch eine Schuldverschreibung der Sophie von Brabant, dass Marburg als eine ihrer wertvollsten Städte ‚verpfändet‘ wurde. Vermögender war in diesem Zeitraum nur die Stadt Grünberg als ‚die‘ Stadt wohlhabender Brabanter Warenhändler.
Marburg wird zum religösen Zentrum
Eindeutiger lässt sich Marburgs Ausbau als religiöses und herrschaftliches Zentrum greifen: Bereits vor Elisabeths Tod erhält die große Kirche 1227 eigene Pfarrrechte, was im 13. Jahrhundert die notwendige Bedingung für einen Ausbau zum religiösen und herrschaftlichen Zentrum war. Mit der Heiligsprechung Elisabeths im Jahr 1235 erhält dieser Ausbau einen neuen und so nicht planbaren Auftrieb, wofür die Ansiedlung des Deutschen Ordens und des Franziskanerordens ein Beispiel ist. Beiden kam nicht nur religiöse Bedeutung zu, sondern sie brachten neues Vermögen sowie Gebäude-, Handels- und überhaupt Entwicklungsmöglichkeiten schon allein durch mehr Menschen in die Stadt.
Äquivalent zur zunehmenden bevölkerungsmäßigen Vielfalt in der Stadt erhält auch die bürgerliche Vergemeinschaftung eine Ausweitung. So ist das älteste Marburger Siegel aus dem Jahr 1244 überliefert, der älteste Siegelstempel vermutlich zwischen 1222 bis 1227 entstanden. Ebenso ist eine Zunahme an Schöffen zu verzeichnen. Deutlichstes Anzeichen für den Ausbau ist aber das seit 1284 verbürgte Recht der Bürgermeisterwahl.2 Insgesamt lässt sich mit Blick auf das 13. Jahrhundert festhalten: Der Flecken am Fuße der Burg besaß um 1200 mit Ummauerung, Münz- und Marktrecht bereits Ansätze zur Stadtbildung. Die unvorhersehbaren günstigen dynastischen Entwicklungen führten dazu, dass Marburg im 13. Jahrhundert zu einer Mittelstadt mit Residenzfunktion avancierte. Auch auf Reichsebene war Marburg ab 1250 als vollwertiges Mitglied des rheinischen Städtebundes nun ein Begriff.
Text von Dr. Constanze Sieger
1 Es handelt sich dabei nicht um eine große Urkunde der Stadtrechtsverleihung oder feierliche, außerordentliche und großartige Beschreibung Marburgs als Stadt. Vielmehr wird in dem Dokument – der Reinhardsbrunner Chronik – über die Geburt des ersten Sohnes der später heiliggesprochenen Elisabeth von Thüringen berichtet. Marburg wird nur deshalb erwähnt, weil sich der Vater des Kindes, Landgraf Ludwig II. von Thüringen, zum Zeitpunkt der Geburt in Marburg aufgehalten haben soll, um „in der größeren Kirche (ecclesia maior) … Gericht mit den Bürgern dieser Stadt“ zu halten.
2 Trotz dieser Entwicklung ist für Marburg keine eigentliche „Stadtrechtsverleihung“ überliefert. Dies ist jedoch nicht durch die mangelnde Bedeutung Marburgs zu erklären, sondern dadurch, dass im Herrschaftsgebiet der Thüringer Landgrafen insgesamt die Entwicklung eines eigenen Stadtrechtes ausblieb. Mit Ausnahme von Kassel, wo im 13. Jahrhundert zumindest einzelne Rechte festgeschrieben wurden – von einer systematischen Stadtrechtsverleihung kann hier auch keine Rede sein – konnten in der Region des heutigen Nordhessen lediglich Städte unter anderer Herrschaft (z.B. Korbach oder Medebach) eine Stadtrechtsverleihung nach Soester Vorbild vorweisen.