November/Dezember 2022
Wie bewegt sich Marburg?!
Willkommen bei der Denkfabrik!
Wie wollen wir die Zukunft Marburgs denken und gestalten? Darum geht es im Stadtjubiläum bei „Marburg erfinden“ auf unterschiedliche Weise, wie etwa beim Marburg-Quiz und ganz aktuell mit der Plattform Matching Marburg, auf der jede*r spannende Ideen einbringen und dafür Mitstreiter*innen suchen kann. Und ganz neu jetzt mit der Denkfabrik! Sie ist eine Einladung an Marburg, sich darüber Gedanken zu machen, wie wir in Zukunft in Marburg leben wollen, was schon gut ist, was noch besser werden soll und was jede*r dazu beitragen kann. Sie wird monatlich aktuelle Themen aufgreifen, die sich aus den Auswertungen des Marburg-Quiz ergeben haben. Die Anzahl der Quizteilnehmer*innen geht inzwischen auf die 5000 zu, so dass das Quiz, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne repräsentativ, dennoch ein Stimmungsbild von dem ist, was viele Marburger*innen bewegt.
Das Thema, das wir diesen Monat diskutieren, ist eines, welches die Berichterstattung in Deutschland gerade im abgelaufenen Sommer dank des 9€-Tickets dominiert hat - die Mobilität. Die Eigenheiten der Mobilität in einer kleinen, hügeligen Stadt wie Marburg werden in der Denkfabrik beleuchtet von zwei Journalist*innen, die nicht nur jeweils im Zuge eines Studiums an der Philipps-Universität ihre ganz eigenen Erfahrungen damit gemacht haben, wie man sich in Marburg so fortbewegt, sondern ebenso jeweils für ihre Beiträge durch einen Besuch ihres alten Studiumsorts eine Reise in die Vergangenheit gemacht haben.
Felix Reek, der in Marburg Literatur und Filmwissenschaft studierte und nun als freier Journalist unter anderem für die Süddeutsche Zeitung textet, schildert in seinem Artikel, wie sich in den 20 Jahren, seitdem er die Stadt verlassen hat, die Mobilität in Marburg aus seiner Sicht verändert hat. Clarice Wolter arbeitet als Online-Nachrichtenredakteurin beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt. Sie hat in Marburg Sprache und Kommunikation studiert und anschließend einen Journalismus-Master in Mainz gemacht. In ihrem Beitrag steuert sie als Beitrag zur Diskussion ihre Perspektive zur Radfahrbarkeit Marburgs bei.
Feedback und Gedanken zum Thema können Sie uns gerne mailen.
20 Jahre später: Wie sich die Mobilität in Marburg verändert hat
von Felix Reek1280 Schritte. Genauso weit ist es von meiner alten Wohnung in der Cappeler Straße 20 bis zum Eingang der Philosophischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg in der Wilhelm-Röpke-Straße. 1,23 Kilometer, 13 gemütliche Gehminuten, 62 Cardiopunkte. Ab einem gewissen Alter wird auch so etwas wichtig. Meine Hand liegt auf der Tür des Haupteingangs, sie ist noch dieselbe, herein darf ich nicht, das Gebäude ist gerade aus Brandschutzgründen geschlossen. Der Bau ist mehr als fünf Jahrzehnte alt und muss saniert werden.
Vor ziemlich genau 20 Jahren habe ich hier mein Studium beendet. Neue deutsche Literatur und Medien, Politikwissenschaft und Soziologie. Zu Fuß bin ich diesen Weg meiner Erinnerung nach nicht ein einziges Mal gegangen. Ein Freund von mir wagte es, in seiner Hippie-Phase, barfuß, mitten im Sommer, er verbrannte sich auf dem heißen Asphalt die Füße und konnte tagelang nicht mehr laufen. Das war mir eine Lehre. Ich fuhr Auto. Jeden Tag. Okay, nicht jeden, aber zumindest an jenen, wo es mir gelang, vor Mittag aus dem Bett zu rollen. Unvorstellbar heute. Beides.
Das eigene Auto bedeutete Freiheit
Zu meiner Verteidigung: Es war eine andere Zeit. Ich bin in einer Kleinstadt in einem Weinanbaugebiet aufgewachsen. Mit 18 Jahren, nein, ich korrigiere, schon mit 17 Jahren machte jeder seinen Führerschein. Wirklich jeder. Bloß keine Zeit verschwenden. Der Führerschein war das Ticket heraus aus der elterlichen Obhut, aus der verhassten Provinz. Es klingt pathetisch, ist aber wahr: Das eigene Auto bedeutete Freiheit.
Wer einen Führerschein samt fahrbaren Untersatz besaß, verschmähte fortan jede andere Fortbewegungsart. In die Schule: mit dem Auto. Zum Sport: mit dem Auto. Um die Ecke Brötchen kaufen: genau, mit dem Auto. Mein Fahrrad rührte ich nicht mehr an. Als ich zum Wintersemester 1997/98 nach Marburg zog, nahm ich es nicht einmal mit. Ich hatte ja einen Parkplatz direkt vor der Haustür. 20 Quadratmeter Wohnraum, 12,5 Quadratmeter Parkfläche, mehr brauchte in den Neunzigerjahren niemand zum Leben. Deswegen stellte sich für mich auch gar nicht die Frage, ob ich zu den Seminaren und Vorlesungen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto erscheinen “anreisen” sollte. Die Antwort stand direkt vor der Tür.
1280 Schritte, 1,23 Kilometer, 13 Gehminuten
Umso unangenehmer ist heute die Konfrontation mit der Gegenwart. 1280 Schritte, 1,23 Kilometer, 13 Gehminuten. Vor 20 Jahren wäre es wahrscheinlich noch schneller gegangen. Selbst mit viel Vorstellungskraft ist es unwahrscheinlich, dass sich das mit dem Auto unterbieten lässt. Aufschließen, einsteigen, ausparken, auf den Parkplatz der Bibliothek neben der Phil-Fak fahren, eine Lücke finden, abstellen, abschließen, herüberlaufen zum Hauptgebäude. Über den ökologischen Fußabdruck müssen wir gar nicht erst reden. Stressiger war es übrigens auch: Der Parkplatz der alten Bibliothek war immer so voll, dass die Autos spätestens ab 11 Uhr in der Mitte zwischen den Buchten parkten. Nach den Seminaren glich das Ausparken einer Runde im Autoscooter auf der Kirmes. Trotzdem wiederholte es sich jeden Tag. Nicht nur ich war CO₂-arglos. Wir alle waren es.
20 Jahre später ist der Parkplatz verweist. Die Streifen auf dem Asphalt sind so verblasst, dass die Buchten für die Autos kaum noch zu erkennen sind. Fahrzeuge parken kaum hier, es sind Semesterferien. Auch der Radweg an der Wilhelm-Röpke-Straße zur Philosophischen Fakultät hat sich kaum verändert. Er ist noch immer viel zu schmal, kein wirklicher Radweg, sondern ein “Schutzfahrstreifen”, wie die offizielle Bezeichnung lautet. Ziemlich gefährlich, gerade auch, weil Autos heute viel breiter sind als vor zwei Jahrzehnten. Die meisten Studentinnen und Studenten werden ihn trotzdem nutzen. Besser ein schmaler Radweg als gar kein Radweg. Wie zur Bestätigung fährt ein älterer Herr, Typ Bibliothekar, auf einem laut knarzenden Kinderroller in Zeitlupe vorbei. Doch die Zeit ist nicht stehen geblieben.
Ein neuer Bahnhofsplatz für eine neue Stadt
Mobilität, das ist heute vielfältiger. Der Zeitgeist hat sich gewandelt. Den Führerschein machen heute immer weniger junge Menschen, das Prestigeobjekt ist kein Mercedes mehr, sondern ein Lastenrad oder ein E-Bike. Wer mobil sein will, sucht sich die beste Option für die jeweilige Gelegenheit: öffentlicher Nahverkehr, Carsharing, Mieträder, E-Roller - das Angebot ist vielfältig.
Das zeigt sich auch in Marburg. Wer sehen will, wie sich die Stadt verändert hat, reist am besten mit dem Zug an und steigt am Bahnhof aus. Vor den Hallen des Gebäudes wurde ein vollkommen neues Areal geschaffen. Ein aufgeräumter Platz, in der Mitte eine breite Insel für die Bushaltestellen. An einer Ampel findet sich sogar ein Haltering für Radler. Die Fahrradhauptstadt Kopenhagen lässt grüßen.
Vor 20 Jahren herrschte hier regelmäßig ein hupendes Durcheinander. Menschen parkten kreuz und quer, um ihre Liebsten zum Bahnhof zu bringen oder abzuholen. Je nach Tagesform der Züge konnte die Verkehrssituation prä-apokalyptische Ausmaße annehmen.
Heute ist die Durchfahrt ausschließlich Fahrrädern und Regionalbussen gestattet.
Nur ein paar Meter neben dem Bahnhof befindet sich eine Station des Sharing-Anbieters NextBike. Die App herunterladen, einen Account anlegen, ein Fahrrad aussuchen, die Nummer eingeben oder den QR-Code eingeben, so einfach kann es gehen. Ein Tipp: Ein Blick auf die Mietbedingungen kann nicht schaden. Sonst folgt wenige Minuten nach dem Abstellen eine empörte Benachrichtigung, dass das Rad “unsachgemäß” (und zwar nicht an einer Station) abgestellt wurde, die Folge: 20 Euro Strafe. Da es sich aber um die erste Ausleihe handelt, bleibt der Anbieter “kulant”. Glück gehabt.
“Move 35” soll Marburg verändern
Dass das Auto nicht mehr allein bestimmt, wie der Raum in Marburg verteilt wird, zeigt sich auf der Tour mit dem NextBike. Es gibt rot markierte Radwege, an manchen Stellen sind die Fahrspuren der Fahrräder so breit wie die der Autos. In der Bahnhofstraße und im Campusviertel mussten die Autos rund zwanzig Prozent der Straßenflächen abtreten und stehen nun ausschließlich Radfahrern und Bussen zur Verfügung. Das ist aber noch Work in progress. Oft führt der Radweg auch nur in eine Richtung. Der Platz ist eben nicht mehr geworden und jeder beansprucht einen Teil für sich: Fußgänger, Rad- und Autofahrer.
Marburg hat sich vorgenommen, diesen Konflikt zu lösen. Bis 2030 will die hessische Universitätsstadt mit etwa 80.000 Einwohnern klimaneutral sein. Eines der Probleme auf dem Weg dorthin ist der Verkehr. 42 Prozent des Verkehrsaufkommens fallen auf das Auto. Zu erkennen an den sich stauenden Fahrzeugkolonnen zu den üblichen Stoßzeiten morgens und abends in der Stadt. Die sollen sich bis 2035 halbieren.
“Move 35” heißt das Konzept, das den Wandel bringen soll. 2019 wurde vom Stadtrat beschlossen, eine „ganzheitliche Mobilitätsstrategie für die Stadt Marburg zu entwickeln“ - unter Beteiligung der Bürger. 4000 Menschen beteiligten sich online, bis Ende dieses Jahres folgt ein Maßnahmenkatalog. Die Vision sind Lösungen für Marburg ohne hohe Lärm-, Verkehrs- und Luftverschmutzung, mit guten Angeboten auch für Pendler. Ein Fokus dürfte angesichts des hohen studentischen Bevölkerungsanteils auf Fuß- und Radverkehr liegen. Marburg ist auf dem Weg in die Zukunft.
Zurück zum Fahrrad haben mich übrigens 20 Jahre in München gebracht. Nicht ohne Grund die Stauhauptstadt Nummer eins in Deutschland. 79 Stunden reihten sich hier im letzten Jahr Pendler in endlosen Kolonnen durch die bayerische Landeshauptstadt. Wie sinnlos das ist, ging mir auf, als ich eines Morgens quer durch München auf dem Weg zur Arbeit merkte, dass neben meinem Auto immer dieselbe Studentin mit ihrem klapprigen Fahrrad an der Ampel auftauchte. Aufgrund des zähfließenden Verkehrs holte sie mich zu jeder Rotphase wieder ein. Danach tat ich es ihr gleich. Ich kaufte ein Fahrrad und radelte jeden Tag zur Arbeit. Ohne Stress, immer pünktlich. Auf die Idee hätte ich auch schon vor 20 Jahren in Marburg kommen können.
Mit dem Rad durch Marburg
von Clarice WolterMeine Reise in die Vergangenheit beginnt an einem Dienstagnachmittag im Oktober am Hauptbahnhof in Frankfurt. Das Fahrrad nehme ich im Regionalexpress mit. Ich habe von 2005 bis 2008 in Marburg studiert und war seit dem Bachelorabschluss nicht mehr länger in der Stadt. Am Bahnhof zeigt sich die erste Überraschung –Aufzüge, die gab es früher nicht. Ich muss das Rad also nicht treppab treppauf tragen.
Ich bin nach Marburg gekommen, um zu sehen, wie sich die Stadt mit dem Fahrrad befahren lässt. In Frankfurt ist es stellenweise die Hölle, wo auf der Straße das Recht des Stärkeren gilt. Denn das ist nicht der Radfahrer – auch in Marburg nicht.
Als ich die Wege meiner Studienzeit am Bahnhof wieder aufnehme, wartet hinter den Busfahrsteigen die zweite Überraschung – ein eigener Überweg und eine Fahrradampel Richtung Innenstadt; sogar mit Haltegriff, damit man nicht absteigen muss. Dahinter bietet die Bahnhofstraße allerdings wie noch viel zu viele Straßen nur einen schmalen Alibi-Radstreifen mit gestrichelter Linie, dementsprechend achten ihn nicht alle Autofahrer. Es dauert aber nicht lange, dann kommt an der Elisabethkirche ein rot markierter Streifen und eine Ampel für Radfahrer, die einen Tick früher Grün wird als für motorisierte Verkehrsteilnehmer.
Am Pilgrimstein gibt es erstaunlicherweise sogar eine bauliche Trennung für Radfahrer, die dem Autoverkehr entgegenfahren. Kurze Zeit später führt der Weg dann aber auf den ohnehin schon engen Bürgersteig. Wenn die sogenannten schwächeren Verkehrsteilnehmer auch noch teilen müssen, kann es schnell gefährlich werden.
Im Alten Botanischen Garten mache ich Pause, die Herbstsonne wärmt, Marburg ist mir in guter Erinnerung geblieben. Neben der für mich neuen, futuristischen Universitätsbibliothek inmitten junger Menschen fühle ich mich ein bisschen wie ein Erstsemester: neu in der Stadt, die ich zu Studienzeiten doch so gut kannte.
Vor 17 Jahren bin ich zuerst immer mit der Bahn von Frankfurt nach Marburg gependelt. Der Hinweg war noch okay – Uni-Kram erledigen: Texte aus den Vorlesungen studieren und die wichtigen Stellen markieren – der Rückweg war oft nur noch quälend müde lang. Später habe ich zur Zwischenmiete in der Neustadt 12 gewohnt, mit Blick auf den Spiegelslustturm, und schließlich länger in einer Zweier-WG in einem Hinterhaus in der Frankfurter Straße, mit Balkon und Schlossblick.
Während ich in der Oberstadt gewohnt habe, war ich ohne Rad unterwegs. Wo ordentlich Steigung auf Fußgängerzone mit Kopfsteinpflaster trifft, ist es besser per pedes. Die Zeit seitdem scheint stehen geblieben zu sein, im guten Sinn. Welche Stadt hat schon Treppen und Aufzüge, die unten mit oben und umgekehrt verbinden?! Ich stelle fest: Das Rad passt in den Aufzug.
Auch ein Schloss thront beileibe nicht über jeder Stadt. Bis dorthin schaffe ich es nicht mehr, vom Marktplatz schiebe ich über die Reitgasse wieder runter.
Manches ist wie früher, leider: Das kurze Stück Universitätsstraße bis Gutenbergstraße, vielspurig mit Bussen, fährt sich auf dem Rad immer noch sehr bescheiden. Aber es gibt einen Lichtblick: nicht nur eine Linksabbieger-Spur, sondern auch einen roten Wartebereich für Radfahrer vor der eigenen Ampel, das lobe ich mir als Frankfurterin.
Ein Stück weiter ist ein Fahrradparkplatz mit einem Lastenrad beschildert. Wie ein langes Gefährt auf die kurze markierte Fläche passen soll, bleibt rätselhaft.
Einbahnstraßen darf man auch in Marburg entgegengesetzt befahren, wenn man denn neben beidseitig parkenden Autos und fahrenden PKW noch Platz hätte.
Wer Radfahren im Großstadt-Verkehr gewohnt ist, dem kann Marburg wenig anhaben. Ich genieße das Fahren sogar. Nie werde ich vergessen, wie entspannt ich von der WG im Südviertel an der Lahn den kurzen Weg Richtung Geisteswissenschaftliche Institute – im Studenten-Mund liebevoll Phil-Fak – jeden Morgen und jeden Nachmittag gefahren bin. Ein bisschen vergleichbar mit dem Naherholungsgebiet am Flüsschen Nidda im nördlichen Frankfurt. Vielleicht verkläre ich das in der Erinnerung, aber Radfahren an der Lahn im Sonnenlicht fühlte und fühlt sich gut an, zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Es hat viel von Freisein.
Die Phil-Fak und die alte Uni-Bibliothek haben sich gar nicht verändert. Früher, als ich noch gependelt bin, bin ich von dort zum Bahnhof gelaufen, ein wenig charmanter Weg. Heute fahre ich mit dem Rad an der anderen Seite der Lahn. Junge Menschen stehen auf der Wiese, vor sich Pappbecher, vielleicht Erstis bei einem Kennenlern-Trinkspiel. Mich zieht es heim. Schlussendlich fahre ich ein Stück am Krummbogen. Doch hier bleibt für mich und die anderen Radfahrer nur ein magerer Streifen Unsicherheit.
Insgesamt hat sich die Stadt ordentlich entwickelt, damit man auf den Drahtesel umsteigen und nebenbei die Umwelt schonen kann. Doch die guten Ansätze reichen nicht. Viel mehr und schneller muss es Platz für Fahrradfahrer geben – zulasten des Auto- und nicht des Fußgängerverkehrs.