: Künstlerin Sigrid Sandmann (Mitte), Assistentin Johanna Bolkart und Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies (2.v.r.), sowie die Organisatoren vom Fachdienst Kultur Sascha Schneider (links) und Nils Böttner waren überwältigt von der Resonanz bei der Kunstintervention „Wortfindungsamt“. (Foto: Beatrix Achinger, i.A.d. Stadt Marburg)
14.10.2022
Sabine Preisler
Künstlerin und OB überwältigt von Marburger Resonanz

Hunderte machen mit beim „Wortfindungsamt“ und feiern in Stadtmitte „Ortlos“-Kunst

Marburg. „Sehnsuchtstrunken“ über dem letzten Kaugummiautomaten der Stadt, „Empathiemensch“ passend zur Bank am Wegesrand, „Teichhuhnpower“ mit Blick auf einen Seitenarm der Lahn: Die Marburger*innen standen Schlange vor dem „Wortfindungsamt“ von Sigrid Sandmann am Rudolphsplatz, um ihre Wunschworte abzugeben und am nächsten Tag als Schild und Kunst im öffentlichen Raum in ganz Marburg sichtbar zu machen. Mit einem großen Fest mit mehr als 150 Gästen hat das Stadtjubiläum am Sonntag zum Abschluss das Sprachkunstwerk und die Kunstintervention „Ortlos“ mit Künstlerin Sigrid Sandmann gefeiert.

Sechs Tage lang hatte sie als „Kunstbeamtin“ auf Einladung der Stadt und des Marburg-erfinden-Projektes „Kunst.Labor.Stadt.Platz“ im Container auf dem Rudolphsplatz die kreativen Wortschöpfungen entgegengenommen, die außerdem per Mail eingereicht werden konnten. Schon zum Start gingen über 40 Vorschläge pro Tag ein. Hunderte der Schilder hat Sandmann so für Marburg produziert. „In den letzten 15 Jahren des Wortfindungsamtes ist mir das erst einmal passiert, das sind fast Hamburger Verhältnisse“, zeigt sich Sandmann von den Marburger*innen mehr als beeindruckt.

Beteiligung in Marburg außerordentlich hoch

Für alle Gäste gab es eine dreistöckige Buchstaben-Torte, die Künstlerin Sigrid Sandmann gemeinsam mit dem Fachdienst Kultur der Stadt bereitstellte. (Foto: Beatrix Achinger, i.A.d. Stadt Marburg)

„Was für eine brillante Idee von Sigrid Sandmann, unser Augenmerk mit dieser wunderbaren Aktion wieder auf unsere Sprache zu richten. Uns liebevoll und begleitend aufzufordern, uns auf die Sprache zu besinnen“, so Kulturdezernent und Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies. „Und was für eine Stadt, deren Bürger*innen uns mit ihrer Kreativität und Fantasie in diesen Tagen einmal mehr beeindrucken, Worte neu zusammensetzen, Neues ausdrücken und zugleich das Augenmerk auf ihre Orte unserer Stadt richten.“ Sprache wirke unbewusst. „Sie ist immer da“, betont Spies.

Deshalb stehe das „Wortfindungsamt“ als Kunst im öffentlichen Raum auch dafür, dass man die Macht des Wortes nicht unterschätzen dürfe. „Sprache kann gewaltsam und manipulativ gegen Menschen eingesetzt werden wie im Nationalsozialismus. Sprache kann aber auch befrieden, wie die Diplomatie beweist. Und sie kann uns erfreuen oder trösten wie in einem Gedicht.“

Mit Ortlos-Kunst wird Rudolphsplatz „besprechbar“

Die Hamburger Künstlerin selbst hat sich das zu Herzen genommen und mit ihren Wortschöpfungen und Beschriftungen die Ecken und Winkel des Rudolphsplatzes „neu benannt“, um Ideen für den Rudolphsplatz besprechbar zu machen sowie zum Austausch über den zentralen Ort in Marburgs Mitte einzuladen. „Kleinod“, „inmitten“, „Verborgenheit“, „Oase“, „Wendepunkt“, „Stadtgedächtnis“ – so lauteten nur einige der Anregungen, die sich dank der Künstlerin am Sonntag in den Platz einfügten oder spielerisch zum Perspektivwechsel herausforderten.

Bunte Abschlussfeier rund um das Wort

Auch beim Abschlussfest zur Kunstintervention drehte sich bei bestem Herbstwetter und Sonnenschein alles um das Wort: Dutzende Besucher*innen nahmen vor Ort ihre Schilder entgegen und viele posierten damit für Fotos, einige tauschten sich über die Geschichten zu ihren Wörtern aus. Bernhard Conrads zum Beispiel, der ehemals mit Menschen mit Behinderung arbeitete, wählte zu seiner Geschichte die Wortneuschöpfung „schwermehrfachnormal“. Damit wolle er „das Augenmerk etwas verschieben“, so Conrads. Auch beim Rahmenprogramm, das Martin Esters und Antje Kessler vom Fast Forward Theatre gestalteten, ging es in verschiedenen Impro-Theater-Einheiten wie Ein-Wort-Sketchen oder blitzschnellen Stilwechseln um die Macht des Wortes. Immer wieder fragten die beiden das Publikum und ließen sich so interaktiv Spielanweisungen zurufen: „An welchem Ort spielen Worte eine große Rolle?“, fragte Esters etwa. Daraufhin begann der Sketch in einer Kirche und das Publikum wollte die Geschichte dann spontan im Opern-, Western- oder sogar Arztroman-Stil weitersehen – dafür ernteten die beiden Schauspieler*innen immer wieder lauten Jubel.

Auch eine große Torte, gespickt mit Buchstaben im Scrabble-Stil, stand zur Verkostung bereit, die die Künstlerin Sigrid Sandmann als Mittelpunkt des Programms anschnitt – zahlreiche Besucher*innen stellten sich für Kostproben an, sodass der Großteil der Tortenstücke schnell über den Tresen wanderte. Und zwischendurch schuf Pianist Jonas Siepmann am Keyboard auf dem Schauplatz des Wortfindungsamts eine musikalische Atmosphäre mit instrumentalen Arrangements.

Das Projekt „Kunst.Labor.Stadt.Platz“ gehört zum Stadtjubiläumsschwerpunkt „Marburg erfinden“ und wird von der Stadt für Marburg800 zusammen mit der AG Kunst, einem Zusammenschluss von Institutionen der Bildenden Kunst, umgesetzt.

Auch die Künstlerin selbst hat den Rudolphsplatz „beschriftet“. (Foto: Sigrid Sandmann)

 

 

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