Mehr als 70 Menschen hatten sich zu dem Workshop „Ein VinziDorf für Marburg“ angemeldet, um insgesamt drei Stunden lang etwas über das Konzept zu lernen und ihre eigenen Ideen einzubringen. (Foto: Freya Altmüller, Stadt Marburg)
08.04.2022
Stadt Marburg/Marburg800
Zukunft für Männer ohne Obdach - Marburg erfinden

Teilnehmer*innen sprechen in Workshop über VinziDorf für Wohnungslose

In der Universitätsstadt Marburg könnten Männer ohne Obdach vielleicht in naher Zukunft in ein sogenanntes VinziDorf ziehen: auf ein Grundstück mit mehreren Minihäusern und einem Gemeinschaftshaus. Mehr als 70 Menschen hatten sich zu dem Workshop „Ein VinziDorf für Marburg“ angemeldet, um insgesamt drei Stunden lang etwas über das Konzept zu lernen und ihre eigenen Ideen einzubringen.

„Wenn man Menschen dafür gewinnen möchte, ein solches Projekt zu unterstützen, ist es wichtig, die Bürger*innen vorab zu informieren und behutsam vorzugehen. Seit 800 Jahren ist sich umeinander zu kümmern in die DNA von Marburg geschrieben. Wir möchten mit dem Projekt Menschen, die aus der Gemeinschaft herausgefallen sind, zurückholen – sofern sie denn möchten“, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies zur Begrüßung der Teilnehmer*innen des Workshops „Ein VinziDorf für Marburg“. Die Veranstaltung organisiert hatte ein Projektbeirat, in dem ein breites Bündnis unterschiedlicher Einrichtungen, gemeinsam mit Vertreter*innen der Stadt Marburg, darunter auch Spies und Stadträtin Kirsten Dinnebier organisiert sind.

Die Idee des „Vinzi-Dorfs“ stammt vom Architekten Alexander Hagner, der im Rahmen der Zukunftsreihe „Marburg800-weiter denken“ zum Stadtjubiläum seinen Ansatz einer „Architektur für Obdachlose“ vorstellte. Marburg feiert 2022 seinen 800. Stadtgeburtstag und widmet sich dabei unter dem Motto „Marburg erfinden“ den Zukunftsfragen der Stadt. Dazu gehörte von Beginn an, sich mit Wegen aus der Obdachlosigkeit zu beschäftigen und als Universitätsstadt im Jubiläumsjahr Impulse aufzugreifen und zu setzen, die zur Umsetzung von innovativen Projekten führen sollen. 

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Insgesamt mehr als 70 Personen hatten sich zur Teilnahme am Workshop im Technologie- und Tagungszentrum angemeldet, um mehr über das Konzept zu erfahren, aber auch selbst für Input zu sorgen. Auch Betroffene waren unter den Anwesenden. Zunächst sprach Jürgen Rausch, Geschäftsführer von der GeWoBau Marburg, über das Konzept des VinziDorfs. Das gehe bereits auf das 17. Jahrhundert zurück, den Priester Vinzenz von Paul, der sich für Arme und Kranke einsetzte. Das erste VinziDorf wurde schließlich von Pfarrer Wolfgang Pucher gegründet und von der Vinzenzgemeinschaft VinziWerke in Graz betrieben. „Betroffene finden hier Privatsphäre, sie haben einen Ort, an dem sie sich aufhalten dürfen, unbefristetes Bleiberecht bis ans Lebensende“, so Rausch. Die Häuser seien standardisiert und hätten in Wien etwa eine Größe von sieben Quadratmetern. Sie enthielten eine kleine Sanitärzelle – Duschen, Küche, Verwaltungsbüros, ein Speiseraum und Gästezimmer fänden sich dagegen in einem Gemeinschafts- und Funktionsgebäude.

Marburg sieht Bedarf für zehn Minihäuser

Das VinziDorf in Wien zu bauen habe nur die Hälfte einer vergleichbaren Unterbringung in Wohnhäusern gekostet, so Rausch. In Marburg gebe es einen Bedarf für zehn Minihäuser. Dafür brauche man eine Fläche von 40 mal 40 Metern. Die städtische Sozialplanerin Monique Meier klärte noch einmal darüber auf, welche Angebote für Menschen ohne Obdach es in Marburg bereits gibt. Das Diakonische Werk betreibt in der Gisselberger Straße eine Tagesaufenthaltsstätte, die Stadt ein Übernachtungsheim, in dem die Menschen aber nur für einige Nächte schlafen können. Im Ginseldorfer Weg dagegen gibt es eine städtische Obdachlosenunterkunft, die für einen längeren Aufenthalt ausgerichtet sind. Hier leben derzeit elf Personen, drei Frauen und acht Männer.

Für den Schritt zurück in ein eigenes Mietverhältnis gibt es das Angebot „Probewohnen“ mit derzeit acht von der Stadt angemieteten Wohnungen. „Ziel ist, nach spätestens einem Jahr einen eigenen Mietvertrag zu unterschreiben“, so Meier. Für diesen Weg gibt es von der Stadt pädagogische Unterstützung für die Probewohnenden. „Die AG Wohnungslosenhilfe mit der Stadt Marburg und vielen Partner*innen hat beschlossen, dass geschlechtsspezifische Angebote mit bedarfsgerechten Wohnformen geschaffen werden. Der aktuelle Standort im Ginseldorfer Weg wird aufgelöst.“ So ist derzeit auch eine Unterkunft für Frauen und Familien geplant. Im Stadtteil Ockershausen wird die Stadt ein Wohnhaus mit zehn Plätzen herrichten. Für dieses Projekt sei die Nachbarschaft per Brief, im Ortsbeirat und bei Tür-zu-Tür-Gesprächen eingebunden worden. „So ähnlich wollen wir es auch machen, wenn wir ein Grundstück für das VinziDorf gefunden haben“, so die Sozialplanerin.

In Workshops werden Ideen und Anregungen gesammelt

Zunächst einmal wurden aber in dem Workshop in einer Arbeitsgruppe Standortkriterien erarbeitet. Monique Meier berichtete gemeinsam mit dem Soziologen Florian Engel von den Ergebnissen einer Befragung von insgesamt acht Wohnungslosen. Auf der Grundlage eines Interviewleifadens wurden Gespräche mit den Betroffen geführt. Diese erzählten, was ihnen zum Thema Wohnen von der Lage bis zur Ausstattung wichtig wäre. Die Befragten waren vor allem ältere Männer. Sie wünschten sich ein abschließbares kleines Haus mit Bett und Tisch, eine zentrumsnahe, aber ruhige Lage, eine gute Anbindung an den ÖPNV und Supermarkt. Genannt wurden zudem Barrierefreiheit, eine Hausordnung mit Regeln des Zusammenlebens, Verwaltungspersonal vor Ort, um die Einhaltung dieser Regeln sicherzustellen und als Ansprechpersonen.

Peter Schmidt, Leiter des Fachbereichs Soziales und Wohnen, stellte die Ergebnisse aus der zweiten Arbeitsgruppe vor. Diese widmete sich dem Thema Freiwilligenengagement. Er berichtete von dem Feedback eines Teilnehmers, der von dem respektvollen Ansatz des VinziDorfs beeindruckt sei und deshalb Lust habe, sich einzubringen. Denn es gehe darum, sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen zu orientieren, so Schmidt. Christian Wild, der sich als Ehrenamtlicher in der Tagesaufenthaltsstätte in der Gisselberger Straße engagiert, leitete die Arbeitsgruppe gemeinsam mit der Moderatorin Karin Buchner. Wild berichtete von vielen Ideen: Dem Anlegen eines Gartens, Kunstangeboten, gemeinsam Kochen, Spazieren gehen, Infotreffen, Feste und Flohmärkte veranstalten. Aber auch die Bewohner des VinziDorfs könnten sich als Freiwillige einbringen und etwa selbst einen Laden betreiben, sagte Wild. Angesprochen wurde auch, dass Freiwilligenarbeit koordiniert werden müsse, dass die Bewohner auch bei Krankheit und Sterben begleitet werden müssten und es Ansprechpartner*innen für die Freiwilligen geben müsse, etwa bei Konfliktsituationen oder auch zur Supervision.

„Wir haben heute ganz viele Anregungen bekommen, die wir berücksichtigen werden“, sagte Jürgen Rausch von der GeWoBau. „Mit dem Projektbeirat werden wir nun auf Standortsuche gehen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir das VinziDorf im Laufe dieses Jahres auf den Weg bringen würden, sodass wir bauen können.“

Nächster Schritt: Termin mit allen Ortsbeiräten

Sozialplanerin Monique Meier berichtete von den nächsten Schritten in dem Projekt: Zunächst sei am 18. Mai ein Termin mit allen Ortsbeiräten und Ortsvorsteher*innen geplant. „Wir möchten vorstellen, was heute erarbeitet worden ist und sie einladen, uns bei der Standortsuche zu unterstützen“. Der Fachbereich Soziales und Wohnen und insbesondere der zuständige Fachdienst Wohnungswesen wird in Abstimmung mit weiteren Beteiligten ein Betriebskonzept erarbeiten, der Kostenrahmen müsse abgeschätzt werden und eine Beschlussvorlage für die politischen Gremien erstellt werden. Zudem sei auch ein weiterer Workshop geplant, bei dem der Projektbeirat wieder alle Interessierten einbinden wird.

Für alle Unterstützer*innen wurde bereits ein Engagement-Bündnis VinziDorf Marburg gegründet. Hier können Sie mitmachen: https://marburgmachtmit.de/page/VinziDorf.

Bürger*innen, die sich für das VinziDorf und die Menschen engagieren möchten, können sich über diese Homepage bei den Kolleg*innen vom Fachdienst Bürger*innenbeteiligung melden und ihre Kontaktdaten aufnehmen lassen.

Für konzeptionelle und inhaltliche Fragen können sich Interessierte unter https://www.gewobau-marburg.de/neubau/neubau-117copy.html informieren oder bei der städtischen Sozialplanerin Monique Meier melden unter (06421) 201 1933 oder monique.meier@marburg-stadt.de.
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