Wie sehen junge Marburger*innen ihre Stadt? Wie soll die Gesellschaft sein und welches Bild soll Marburg von sich haben? Das haben Kinder und Jugendliche nun großformatig mit leuchtenden Farben auf Leinwand gebracht. Die beeindruckende Zukunftsvision ist aktuell der Hingucker im Historischen Rathaussaal. Mit dem Kunstprojekt im Rahmen des Stadtjubiläums Marburg800 wird das Gemälde „Der Lauf des Lebens“ von Carl Bantzer für sechs Wochen verhüllt – was bereits im Vorfeld eine enorme Diskussion in der Stadtgesellschaft über Geschichte und das Selbstbild Marburgs auslöst hat.
Ganz unterschiedliche Menschen in farbenfroher Kleidung, fröhlich, strahlend und gemeinsam, inmitten von Schmetterlingen, Blumen und Musik – wer genau hinschaut entdeckt einen exotischen Vogel, Häuser mit begrünten Dächern, einen Roboter, Mobilität der Zukunft und eine strahlende Regenbogenfahne, die vom Dach des Rasthauses bis in die Gemeinschaft weht. Das Bild, das 18 Kinder und Jugendliche mit den Künstlerinnen Maria Pohland und Randi Grundke im Rahmen der Kunstwerkstatt geschaffen haben, bietet vielfältige und besondere Details zu entdecken. Es zeigt, wie die jungen Menschen ihr Marburg sehen – und wie sie sich die Zukunft der Stadt wünschen: bunt, vielfältig, modern und im Einklang mit der Natur.
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Die Künstlerinnen hatten sich gewünscht, mit dem Projekt eine Diskussion über ein ganz besonderes Kunstwerk an einem ganz besonderen Ort in der Stadt auszulösen: Im Historischen Rathaussaal hängt seit 1930 „Der Lauf des Lebens“ von Carl Bantzer – eine Auftragsarbeit des damaligen, konservativ geprägten Magistrats für den Raum, in dem zu der Zeit die Stadtverordnetenversammlung tagte. Bantzers Gemälde zeigt das Selbstbildnis, das die damaligen Stadtoberen von Marburg präsentieren wollten. Seither dominiert das großformatige Bild den repräsentativen Raum der Stadt, der nur für besondere Gelegenheiten geöffnet wird – etwa für Empfänge, Ehrungen und Trauungen. Die Künstlerinnen kamen mit ihrer Idee auf Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies zu: das frühere Selbstbildnis der Stadt mit dem der Zukunft ins Verhältnis zu setzen – durch die Augen von Kindern und Jugendlichen. Die Stadtspitze stimmte zu, das Bantzer-Gemälde für sechs Wochen zu verhängen und so dem Kunstprojekt der jungen Marburger*innen eine ganz besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen – wohlwissend, dass es eine breite Diskussion auslösen wird.
„In den letzten Wochen haben wir dann auch – gerade in den Leserbriefspalten der Zeitung – eine spannende Diskussion zu dieser Aktion erlebt. Das hat mich sehr gefreut, denn es zeigt, wie wichtig Menschen die Kunst nehmen, wie breit die Interpretationen sind und wie die Kunst geeignet ist, uns zu Gedanken über unser Selbstverständnis anzuregen. Das soll sie, und schon deshalb war diese Aktion es allemal wert, durchgeführt zu werden“, so Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies bei der Eröffnung der Zukunftsvision. Er dankte den beteiligten Künstler*innen – vor allem den Kindern und Jugendlichen, die einen Beitrag für eine Diskussion zum Selbstverständnis der Stadt angestoßen haben. Das sind: Alexander (14), Aurelie (12), Clara (13), David (8), Emmi (10), Jesper (10), Jona (11), Karim (11), Leandra (10), Larissa (8), Laurin (12), Mathieu (11), Maria (8), Max (11), Paulina (12), Rebekka (10), Salome (12) und Sevda (21).
„Das jetzt verhüllte Bild ist keine historische Tapete, die allein nach ihrem Denkmalwert betrachtet werden darf“, betont das Stadtoberhaupt. „Kunst ist nie nur Schmuck. Sie ist immer Ausdruck und manchmal Reflektion ihrer Zeit.“ Carl Bantzer sei einer der bedeutendsten Maler im frühen 20. Jahrhundert gewesen. „Sein Bild verdient den Respekt, mehr zu sein, als eine historische Dekoration“, betont das Stadtoberhaupt. „Es war immer ein politisches Bild, mit dem die reaktionär-rückwärtsgewandte Mehrheit der 20er Jahre in Marburg ihr Selbstverständnis als Stadt dokumentierte.“ Und so sei auch das neue Kunstwerk der jungen Marburger*innen ein politisches Bild.
Spies betonte auch, dass Bantzers Werk weder beseitigt oder übermalt werde. Es werde nun für sechs Wochen mit dem neuen Bild der jungen Künstler*innen verhüllt, die ihr Selbstverständnis der Stadt dokumentieren – eine Reproduktion des Bantzer-Bildes ist in kleinerem Format daneben platziert. „Mit eurem Bild setzt ihr einen sehr klaren Gegenpol: Ihr sucht nicht rückwärtsgewandt nach Verbindung zu einer vordemokratischen Vergangenheit. Sondern ihr blickt nach vorn, in ein Marburg der Zukunft, ein Marburg, in dem wir unsere Ideen und Werte besser umsetzen“, freute sich Spies über das strahlende Bild, das aus dem Kunstprojekt hervorgegangen ist. Das sei ein wichtiger Beitrag zum Jubiläumsjahr – eine Auseinandersetzung mit der Geschichte und vor allem auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie man in Marburg zusammenleben wolle.