Autorin Stefanie vor Schulte (links) im Gespräch mit Friederike Wissmach, Vorsitzende des Marburger Literaturforums bei ihrer Lesung anlässlich des Volkstrauertags. (Foto: Nadja Schwarzwäller, i. A. d. Stadt Marburg)
17.11.2022
Stadt Marburg/Marburg800
Lesung zum Volkstrauertag und Finissage von „Wounded“

„Lassen wir uns berühren und bewegen“

Seit 1952 findet in Deutschland der Volkstrauertag zwei Wochen vor dem ersten Adventssonntag statt. Der staatliche Gedenktag soll an die Opfer von Krieg und Gewalt erinnern. Die Universitätsstadt Marburg hat das Gedenken in diesem Jahr bewusst in einer neuen Form gestaltet. Statt einer traditionellen Veranstaltung auf dem Friedhof, hat eine Lesung im Historischen Rathaussaal stattgefunden, die gleichzeitig als Finissage der Ausstellung „Wounded: The Legacy of War“ diente.

Eindrucksvolle Bilder von Kriegsversehrten. Wunden und Stümpfe, Spuren von Gewalt, aber zugleich und an erster Stelle die Würde des Menschen. Diese Spuren und Themen spielten sowohl in der Ausstellung eine Rolle, die eineinhalb Monate täglich im Marburger Rathaus zu sehen gewesen ist, als auch im Debütroman „Junge mit schwarzem Hahn“ der Marburger Autorin Stefanie vor Schulte. Bryan Adams, kanadischer Musiker und Fotograf, hat diese Spuren fotografisch dokumentiert, in vor Schultes Roman zeichnet sie ein Junge in Zeiten eines fiktiven Krieges. Die Kunst, sowohl Bilder als auch Geschichten, diene dazu, das Wesentliche im Auge zu behalten, erklärte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies im Historischen Saal des Rathauses.

Über Bilder und Geschichten sei es möglich, sich hineinzudenken und nachzuerleben, was es heißt, in einer Zeit des Krieges zu leben, so Spies. „Lassen wir uns berühren und bewegen“, rief das Stadtoberhaupt die rund 60 Besucher*innen der Lesung auf. Mit diesem Ansatz geht die Universitätsstadt neue Wege – die traditionelle Form des Gedenkens mit einer oft erstarrten Abfolge habe sich zunehmend überlebt, erläuterte Spies. „Wir wollten dem Gedenken eine aktuellere und Marburg-gemäßere Form geben.“ Insbesondere in einer Zeit, in der das Thema Krieg wieder so aktuell sei wie schon lange nicht mehr.

Bereits im Vorfeld des Volkstrauertags hatte die Stadt deshalb die international renommierte Ausstellung „Wounded: The Legacy of War“ im Stadtjubiläumsjahr nach Marburg geholt. Unter diesem Titel hat Bryan Adams junge britische Kriegsveteran*innen portraitiert. „Mit seinen Fotografien lassen uns die Menschen in ihre Seele blicken, sie führen die Schrecken des Krieges so leibhaftig vor Augen“, erklärt Kuratorin Anke Degenhard, die gemeinsam mit Mat Humphrey für die Ausstellung in Marburg zuständig war. Bryan Adams selbst sagt über die Menschen, die er fotografiert hat: „Sie mussten ertragen, dass sie bei den alltäglichen Dingen des Lebens angestarrt und sogar ausgegrenzt wurden: wegen sichtbarer und unsichtbarer Narben, Verbrennungen höchsten Grades, Verstümmelungen an Armen und Beinen“. Durch die Kunst des Fotografen und die Charakterstärke der Veteran*innen seien die Werke zugleich eine Hommage an das Leben und ein Zeugnis des Krieges, so die Kurator*innen.

Auch in Stefanie vor Schultes Roman „Junge mit dem schwarzen Hahn“ müssen Menschen mit den Folgen eines Krieges kämpfen. Die Geschichte spielt vor rund 500 Jahren, allerdings ist sie letztlich in einer „Nicht-Zeit“ und an einem „Nicht-Ort“ angesiedelt, wie die Autorin bei der Lesung am Sonntag sagte. Dieser Tatsache sei auch geschuldet, dass der Roman in vielen Rezensionen mit dem Begriff eines Märchens assoziiert wird. Die Vorsitzende des Marburger Literaturforums, Friederike Wissmach, die die Lesung moderierte, stellte die Sprache des Romans in die Tradition mündlicher Überlieferungen. „Ich schreibe immer vom Bild her“, erklärte Stefanie vor Schulte.

Das kommt nicht von ungefähr: Die Autorin, 1974 in Hannover geboren, ist studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. Für ihr Romandebüt erhielt sie im vergangenen Jahr den mit 20.000 Euro dotierten Mara-Cassens-Preis. Der titelgebende Junge mit schwarzem Hahn ist Martin, elf Jahre alt und ein Sonderling im Dorf. Nicht der klassische „reine Tor“, wie Stefanie vor Schulte erläutert, ein Kind „mit klugen Gefühlen“. Den schwarzen Hahn – in den Augen der Dorfbewohner ein Tier des Teufels –, den er stets bei sich trägt, bezeichnet sie als einen Mahner und Erinnerer, diesen klugen Gefühlen zu folgen.

Als Kind hat Martin mit ansehen müssen, wie der Vater Mutter und Geschwister erschlug. Gewalt und Düsternis, Angst und Entbehrungen bestimmen die Atmosphäre. Jedes Jahr wird aufs Neue ein Kind im Dorf entführt. Und wo die anderen eine Gespensterfigur fürchten, macht Martin sich auf die Suche nach dem jüngst entführten Mädchen, das er retten will. Denn: „Ein gerettetes Leben ist alle Leben“. Er schließt sich dem Maler an, der in der Dorfkirche ein Altarbild gefertigt hat. Und beginnt auf der gemeinsamen Reise, die Wunden der Kriegsversehrten zu zeichnen – ein direkter thematischer Bezug zur Ausstellung „Wounded“.

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