Kunst & Krempel trifft beim neuen Format „Stück für Stück“ auf Stadtgeschichte. Ruth Fischer (Fachdienstleiterin Kultur, l.) Lisa Bingenheimer (2. v. r.) und Julia Brandt (r.) realisieren das Projekt zusammen mit der Stadt. Zum Auftakt begrüßte Stadträtin Kirsten Dinnebier (Mitte) im Rathaus. Mit ihren Fundstücken eröffneten Sabine Bald (2. v. l.) und Reinhold Drusel (3. v. r.) den Reigen der vielfältigen Präsentationen, die Thomas Rösser aufzeichnete. (Foto: Sabine Preisler, Stadt Marburg)
28.11.2022
Stadt Marburg/Marburg800
Museum von Morgen: Marburgs Stadthistorie gemeinsam erzählen

Erfolgreicher Auftakt für „Stück für Stück“: Marburger*innen stellen 20 Fundstücke vor

Zurück und in die Zukunft: Wie lange Marburg Brauereistandort war, was die Bürger*innen mit mobilen Botschaften auf Buttons, Zetteln oder mit Plakaten bewegt und bewegte, ob ein Marburger Leben in eine fotografische Schatzkiste passt und ein klappbarer Zylinder für die Handwerkskunst aus Marburg steht. All das wird mit dem neuen Format „Stück für Stück. Marburgs Geschichte der Zukunft gemeinsam erzählen“ lebendig.

Und zwar ganz konkret und zum Anfassen: Die Universitätsstadt hatte Menschen aus Marburg aufgerufen, auf ihrem Dachboden, im Keller oder in Schubladen nach Fundstücken von gestern und heute für ein Museum von Morgen zu suchen. An zwei Tagen im Historischen Rathaussaal stellten Marburger*innen jetzt ihre Alltagsgegenstände verbunden mit ihren persönlichen Erinnerungen vor laufender Kamera bei einer öffentlichen Veranstaltung vor.

Ausstellung entsteht für Februar im Rathaus

Welches Fundstück steht aus ihrer Sicht für Marburgs jüngste Geschichte? Das konnten alle Besucher*innen und Teilnehmende bei der ersten Veranstaltung im Rathaus live hören, sehen oder selbst erzählen. Doch damit nicht genug: Die Aufzeichnungen von Präsentationen und ganz unterschiedlichen Perspektiven zur Marburger Geschichte rücken nun in den Mittelpunkt einer Ausstellung, die ab 10. Februar 2023 wiederum in der Mitte der Stadt, im Rathaus zu sehen sein wird.

Über 20 völlig unterschiedliche Exponate wurden dafür von ihren Besitzer*innen vorgestellt: Darunter der Bierseidel der alten Brauerei genauso wie ein Video vom Fest am Biegeneck, die Buttonsammlung von der Friedensbewegung bis zur Marburger Aktion gegen Berufsverbote, der Becher vom Unisommerfest, Wahlplakate aus einer anderen Zeit, Erinnerungen an die Siedlung am Krekel oder an die Sommerkonzerte auf der Schlossparkbühne.

Auch Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies selbst hatte am Nachmittag mit dem Plakat „Alles für Marburg“ seine Erinnerungen und Rückblicke auf die Kindheit Anfang der 70er-Jahre und – dank seiner Mutter, selbst Stadtverordnete der SPD – auf frühe Begegnungen mit dem damaligen OB Hanno Drechsler mitgebracht – „als Kind stand ich vor dem Schreibtisch, an dem ich heute sitze“. Das Wahlplakat mit einem impressionistischen Bild von Marburg stehe für persönliche Erinnerungen, aber auch für eine Zeit der „Innovation, des Wandels und entscheidender Entwicklungsschritte“ wie der Altstadtsanierung. Auf der Rückseite erinnere das Plakat als „Zeugnis der Stadtgeschichte“ an handelnde Personen wie an Drechsler und den damaligen Bundesjustizminister und Marburger Gerhard Jahn, aber eben auch an Pauli Spies.

Nicht im stillen Kämmerlein: Gemeinsames Nachdenken über Stadtgeschichte

„Ich finde es wunderbar, dass wir auf eine so anschauliche Art und Weise darüber nachdenken, wie uns Marburg in Zukunft in Erinnerung bleiben soll. Und wie wir die Geschichte der Zukunft gemeinsam erzählen wollen“, hatte Stadträtin Kirsten Dinnebier zur Eröffnung betont. „Wir denken nicht allein im stillen Kämmerlein nach, sondern Stück für Stück anhand konkreter Gegenstände – und vor allen Dingen: mit Ihnen zusammen“, dankte sie für die Beteiligung der Marburger*innen. Für „Rares“ gab es bei „Stück für Stück“ somit zwar nicht „Bares“, aber stattdessen jede Menge spannende Marburg-Geschichte(n).

Die digitale und analoge Schau „Stück für Stück“ versteht sich wie zuvor die städtische Präsentation der „Stadtgeschichte*n“ als ein Beitrag zum Nachdenken auf dem Weg zu einem Stadtmuseum. „Wir möchten Ihre Fundstücke sehen und Ihre Erinnerungen hören, damit unsere Stadtgeschichte von möglichst vielen sozialen Gruppen interessant erzählt wird. Wir möchten dabei möglichst keine Stimme überhören und keine Stolperfalle übersehen“, erklärte Dinnebier. „Das ist wichtig, weil wir auf diesem Weg gemeinsam unsere Geschichte verhandeln, unsere Vergangenheit besser verstehen, aus früheren Fehlern lernen, unsere Stärken und Schwächen erkennen können.“ Gerade in diesem Monat haben die Stadtverordneten darüber gesprochen, wie ein hybrides Museum gestaltet werden muss und was es für eine Gesellschaft leisten soll, wie Dinnebier informierte.

Hervor geht das im Jubiläumsjahr gestartete Format „Stück für Stück“ aus einem Studienprojekt an der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder). Lisa Bingenheimer (Landesamt für Denkmalpflege Hessen), Julia Brandt (Landesamt für Denkmalpflege Bayern) und Ruth Fischer, Marburgs Fachdienstleiterin für Kultur, realisieren es gemeinsam im Rahmen des berufsbegleitenden Masterstudienganges „Schutz Europäischer Kulturgüter“. Sie bringen dank ihrer beruflichen Hintergründe vielfältige Perspektiven von der Literaturgeschichte über die Kulturvermittlung und Restauration bis zum Kulturrecht ein.

Beteiligung der Bürger*innen und zugleich professionelles Kuratieren gehören dabei zu den Kernthemen des Projektes. Aus diesem Grund sieht das Projekt außerdem vor, die Ausstellungsobjekte nach der ersten Vorstellung gemeinsam mit einem gemischten Kuratorium zu sichten, das Expert*innen und Laien umfasst. Für die Mitwirkung eingeladen wurden so Stadtteilsozialarbeit, Blinden-Studienanstalt, Behindertenbeirat, Alten- und Sozialplanung, Ausländerbeirat, Kinder und Jugendliche, Studierende, das Museum für Kunst und Kulturgeschichte, die Landesdenkmalpflege und Vertreter*innen der Universitären Sammlungen. In einem Workshop wird es darum gehen, wie bei breiter Bürger*innenbeteiligung zugleich auch die wissenschaftliche Qualität von Ausstellungen zu gewährleisten ist.

„Wir möchten die persönlichen Geschichten möglichst vieler Menschen und ihre Vorstellungen von einem möglichen Marburger Museum hören“, hatte Oberbürgermeister und Kulturdezernent Dr. Thomas Spies vorab erklärt.

Eine digitale Version soll es dabei ermöglichen, die Geschichte auch von zu Hause aus zu genießen und neue Zugänge bieten. Geplant sind außerdem inklusive Elemente wie Audiodeskription und Übersetzungen für Blinde und Gehörlose. Ziel ist eine zeitgemäße Form der Geschichtsvermittlung – passend zu den Stadtjubiläumsschwerpunkten „Marburg erinnern“ und „Marburg erfinden“. „Ein Museum der Zukunft sollte die Kultur fördern, Bildungschancen erhöhen, Zusammenhalt schaffen und Demokratie stärken – das ist mein großer Wunsch“, so Stadträtin Dinnebier zum Auftakt des Forschungsprojektes im Rathaus.

Auszüge: Einige der Stimmen und Erinnerungsstücke

Sabine Bald, Trinkbecher vom Unisommerfest 1994

„Heute ist das Unisommerfest nicht mehr so präsent. Aber früher war es mitten in der Stadt und für alle jungen Leute der Treffpunkt, nicht nur für Studierende, sondern auch für Menschen aus dem Arbeitsleben. So manche Liebesbeziehung ist dort entstanden. Ende Juni hieß es immer: Kommst du mit aufs Unisommerfest?“

Reinhold Drusel, Plakat letztes Bundestreffen Arbeitersport in Marburg und Marburger SPD-Wahlplakat von 1972:

„Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt fanden Wahlkämpfe äußerst strittig und in erbitterter Härte statt“, erinnert sich Reinhold Drusel, selbst 40 Jahre aktiv in der Kommunalpolitik. Heute gehört seine Liebe der Heimatkunde. Das Marburger Wahlplakat, das die Stadt von oben zeigt, habe lange in vielen Partykellern gehangen. Denn anders als heute war diese Perspektive noch eine Besonderheit: „Aufgenommen vom Heißluftballon, denn Drohnen, so etwas gab es ja noch nicht“. Zu sehen sind darauf auch Gebäude wie das Luisa-Bad, das es nicht mehr gibt, aber eben auch die Altstadt, die wie Drusel hervorhob, dank der Politik erhalten blieb.

Hartmut Möller, Holzkiste mit Fotos eines Marburgers (Nachlass/Am Grün)

„Es ist ein Schatzkistchen von 1910 bis in die 70er Jahre. Sein ganzes Leben hat er dort hineingepackt, vom Turn- und Hockeyverein, vom Faschingsfest.  Zu sehen ist zum Beispiel eine Fasspartie am Bismarckturm – 100 Männer schick gemacht mit Krawatten und Hüten. Aber auch Fotos von der Badeanstalt in der Lahn.“

Monika Althausen, selbst engagiert für den Marburger Chor, Fotos von Sommerkonzerten der 70er/80er Jahre

„Die Sommerkonzerte auf der Freilichtbühne waren immer eine riesige Attraktion und voll besetzt – jeden Samstag. Und bei schlechten Wetter war genauso klar: Wir gehen ins Audimax. Da brauchte man gar nicht nachsehen und Internet gab es ja noch nicht.“

Ingo Becker, Chapeau Claque von Marburger Hutmacher

„Ich möchte zeigen, wie viele Dinge von Marburg in die Welt hinausgehen. Wissen, Impfstoffe, aber eben auch Handwerksgegenstände.“

Renate Buchenauer, Bierhumpen aus Bopps Brauerei

„Die Brauerei am Pilgrimstein war lange für das Stadtbild prägend. Ich habe den Bierhumpen mit deutlichen Gebrauchsspuren im Keller gefunden, wahrscheinlich stammt er von meinem Großvater. Mit einem halben Liter war er sicher nach dem vierten oder fünften Bier schon ziemlich schwer. Mein langer Schulweg führte an der Brauerei vorbei und für uns Kinder stank die Maische. Später war ich mit meinen eigenen Kindern auch in der Brauerei und stellte fest – es roch eigentlich ganz gut. Auf jeden Fall bleibt die Brauerei vielen Marburgern in Erinnerung. Heute ist sie verschwunden.“

Ursula  Mannschitz, Kiste aus Obdachlosensiedlung Krekel

„Wir arbeiten an einer Stadtschrift zur ehemaligen Siedlung am Krekel und werden diese Kiste mit Dokumenten füllen, die wir gefunden haben. 1930 gebaut war der Krekel eine Siedlung für Leute, die auf der Straße standen, und hier mit sieben bis acht Leuten in zwei Zimmern unterkamen, die Wasserpumpe auf dem Hof. Erst später kamen soziale Betreuung und Kindergarten hinzu. Ich habe selbst seit 1984 im Waldtal gearbeitet. Es gibt so viele Geschichten von reichen Leuten, uns haben diese Menschen vom Krekel einen Teil ihres Lebens anvertraut. Ich finde, dass dies in ein Museum gehört.“

Monika Bunk, roter Bleistiftspitzer mit der Aufschrift "Leo Flachsmann"

„An diesem kleinen roten Stück hängen gleich zwei jüdische Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts. Der Spitzer war ein Geschenk von Ilse Flachsmann (1915 bis 2008), der letzten Marburger Jüdin, die die Schoah überlebt hat und bis zu ihrem Tod in Marburg lebte. Es war ein Werbegeschenk der Schreinerei ihres Mannes Leo (1895 bis 1954) aus Kirchhain, den sie im KZ Theresienstadt kennengelernt und nach dem Dritten Reich geheiratet hat. Beide lebten bis zu Leos frühem Tod durch die Folgen der Lageraufenthalte in Kirchhain, wo er sein Geschäft führte.“ Ilse Flachsmann bewahrte dieses Erinnerungsstück fast 50 Jahre auf, erst anlässlich ihres Umzugs in ein Seniorenwohnheim hat sie es an ihre Freundin Monika Bunk weitergegeben.

Harry Hecker, Kiste mit Buttons und Aufklebern ab 60er Jahren

„Der Unterschied von Buttons und Aufklebern: Reden Sie mal mit einer Laterne, aber den Buttonträger, den können Sie ansprechen. Diese Sammlung von Buttons, das ist wie tiefgefrorene Zeit“. Ob Protest gegen Kasernen am Hasenkopf, Solidaritätsbutton mit Herbert Bastian und gegen Berufsverbote, Button für die 35-Stunden-Woche, Marburger Ostermarsch oder Aktion gegen den Putsch in Chile, all das zeigt Harry Hecker in Kunstharz fixiert in einer Schublade.

Sylvie Cloutier, Vorsitzende Ausländerbeirat, Zettel aus Garten des Gedenkens

„Dass wir als Ausländerbeirat im Garten des Gedenkens am Ort der am 9. November 1938 zerstörten Synagoge mitmachen konnten und dabei auch viele Menschen ihre eigenen Fluchterfahrungen beigetragen haben, bedeutet für mich, dass wir als Neubürger*innen hier angekommen sind.“

Weitere Informationen zum Projekt sowie weitere Impressionen vom Auftakt erhalten Sie auf der Projektseite.

© Januar 2022 - marburg800