September/Oktober 2022
Wie sehen wir Marburg?!
Willkommen bei der Denkfabrik!
Wie wollen wir die Zukunft Marburgs denken und gestalten? Darum geht es im Stadtjubiläum bei „Marburg erfinden“ auf unterschiedliche Weise, wie etwa beim Marburg-Quiz und ganz aktuell mit der Plattform Matching Marburg, auf der jede*r spannende Ideen einbringen und dafür Mitstreiter*innen suchen kann. Die Denkfabrik ist eine weitere Einladung an Marburg, sich darüber Gedanken zu machen, wie wir in Zukunft in Marburg leben wollen, was schon gut ist, was noch besser werden soll und was jede*r dazu beitragen kann. Sie greift monatlich aktuelle Themen auf, die sich aus den Auswertungen des Marburg-Quiz ergeben haben. Die Anzahl der Quizteilnehmer*innen geht inzwischen auf die 5000 zu, so dass das Quiz, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne repräsentativ, dennoch ein Stimmungsbild von dem ist, was viele Marburger*innen bewegt.
Im September spiegelt die Journalistin Corinna Baier in ihrem Essay den Widerstreit zwischen Tradition und Innovation in Marburg. Ist Marburg eher eine traditionsbewusste historische Stadt, in der der Blick auf die Errungenschaften der Vergangenheit gerichtet ist, oder doch kreative moderne Stadt, mit grenzenlosem Innovationspotenzial oder das Beste von beidem?
Corinna Baier studierte Medienwissenschaften und Philosophie in Marburg, volontierte bei Hubert Burda Media und ist heute Ressortleiterin bei dem Nachrichtenmagazin Focus. Sie beschäftigt sich vor allem mit den Auswirkungen von Technologie auf Wirtschaft und Gesellschaft.
Feedback und Gedanken zum Thema können Sie uns gerne mailen.
Marburg: traditionell oder innovativ oder was?
von Corinna Baier
Eigentlich will ich auch nicht, dass sich irgendetwas ändert. Wenn ich heute, mehr als zehn Jahre nachdem ich Marburg verlassen habe, durch die Gassen gehe, werde ich immer leicht melancholisch. Wo ich früher zu den Klängen von DJ Christian Braun tanzte, ist inzwischen ein Lidl eingezogen, die Stadthalle sieht völlig anders aus, morgens um 4 schimpft mich kein wütender Wirt mehr aus dem Bolschoi, der einstigen Marburger Kultkneipe, nicht mal meine hässliche Universitätsbibliothek ist noch an Ort und Stelle. Vielmehr empfängt mich ein architektonisch aufwändig wirkendes Ungetüm aus Glas und Stahl. Man wünscht sich wohl immer, dass die Orte der eigenen Historie zum persönlichen Museum werden. Ich will nicht klagen. Nur das kleine Filmkunsttheater. Das wird nicht mehr finanziert, Wohnungen sollen dort entstehen. Und das tut weh. Niemand sitzt dort mehr mit weit aufgerissenen Augen im Sessel, wenn Jan Harlan, eine Filmlegende der alten Garden, dem muffigen Kinosaal einen Besuch abstattet. Und das ist für mich inakzeptabel, manche Dinge sind es wert, sie zu bewahren, weil sie die Seele einer Stadt ausmachen.
Dieser Zwiespalt zwischen Erneuern und Bewahren, der auf interessante Weise schon in Marburgs DNA angelegt ist, riss erst kürzlich die Koalition von Oberbürgermeister Thomas Spies auseinander. Inzwischen wird nämlich die wohl großartigste Innovation des vergangenen Jahres in Marburg hergestellt: Der Impfstoff gegen Covid19. BioNTech kaufte eine alte Novartis-Fabrik im Norden der Stadt für die Produktion, investierte Millionen in die Gegend. Auch, weil Marburg dem Mainzer Unternehmen mit den Steuern entgegenkam. Das war für die Linke ein rotes Tuch: Warum sollte sich gerade Marburg an einem Wettrennen nach unten beteiligen, das milliardenschwere Konzerne entlastet? Gut, im Falle von BioNTech finanzieren diese Millionen womöglich einen Durchbruch in der Krebsforschung, aber unrecht hatte die Fraktionsvorsitzende Renate Bastian mit dem Argument sicher nicht. Warum gerade Marburg mit seiner Geschichte? Und hier sind wir bei dem Zwiespalt in der DNA. Lassen Sie mich kurz ausholen.
Die mächtige E-Kirche, vor der früher immer eine alte Frau mit Tourette-Syndrom vorbeigehenden Studierenden wahlweise Reichtum oder den Teufel an den Hals wünschte, sie ist nach einer besonderen Frau benannt: Elisabeth von Thüringen. Sie gründete 1231 das erste Hospital der Stadt, versorgte dort selbst bis zu ihrem Tod Kranke und Verwundete. Und sie legte damit den Grundstein für Marburg, wie es heute existiert. Ein paar hundert Jahre später gründete Landgraf Philipp von Hessen die nach ihm benannte Universität, die sich von Anfang an der harten Wissenschaft verschrieb. In Marburg entstand beispielsweise der weltweit erste Lehrstuhl für pharmazeutisch-medizinisch orientierte Chemie. Wiederum ein paar hundert Jahre später, nämlich 1901, holte schließlich der Immunologe Emil von Bering Marburgs erste Nobelpreis und damit ein stattliches Preisgeld, mit dem er die Behringwerke im nördlichen Marbach aufbaute. Bis heute einer der größten Arbeitgeber.
Pharma brachte damals das Geld in die Stadt. So wie BioNTech heute. Sogar 50 weitere Millionen wollen Şahin und Türeci investieren. Der Oberbürgermeister rechnet mit 286 Millionen Euro Steuereinnahmen in 2023 – doppelt soviel wie früher. Auch schön, damit lässt sich viel umsetzen. Nur ist die Pharmaindustrie grundsätzlich, auch wenn sie zu Marburg gehört wie die CSU zu Bayern, natürlich kein Wohltäterverein und global betrachtet alles andere als menschenfreundlich, im Kern sogar eine der hässlichsten Ausprägungen des Kapitalismus, weil nirgends so unmittelbar aus Leid Gewinn geschöpft wird. Und ja, auch BioNTech teilt keine Impfstoff-Patente mit den Ärmeren. Anders als es Elisabeth einst vorlebte. Viele Marburger und Marburgerinnen waren auch deshalb gegen den BioNTech-Deal, nicht nur die Linke, wie eine Petition mit mehreren hundert Unterschriften belegt.
Von außen betrachtet mag das fortschrittsfeindlich wirken und das hat man der Stadt auch oft unterstellt, dabei ist Marburg alles andere als das. Vielmehr ist es der Ort, wo ich kritisches Denken gelernt habe. Ich erinnere mich an einen Nachmittag im überfüllten Audimax: Vollversammlung der Studierenden. Wir stimmten über irgendeine Änderung von irgendwas ab. Die Details habe ich längst vergessen. Ich weiß nur noch, dass der Kommilitone unten am Pult innehielt: „Hier wurde nicht gegendert.“ Das Prozedere wurde gestoppt, der Text geändert und nochmal über die Änderung der Änderung abgestimmt. Niemand war dagegen. Und das im Jahr 2006, lange bevor alle darüber geredet haben. Damals verdrehte ich die Augen, heute weiß ich, wie wichtig diese vermeintlichen Kleinigkeiten, wie wichtig Sprache für unsere Gesellschaft ist.
Marburg war die geistige Heimat von Hannah Arendt, von Jürgen Habermas und natürlich dessen Doktorvater Wolfgang Abendroth. Er war es, der nicht nur die Politikwissenschaften dort prägte, sondern die Stadt an sich. Wir saßen früher häufig auf der nach ihm benannten Brücke und rauchten. Der linke Politologe und einstige Widerstandskämpfer gegen die Nazis machte Marburg 1968 zu einer Hochburg der Studentenrevolution, er verpasste Marburg später das rote Image. Viele kamen nur seinetwegen an die Philipps-Universität, er und sein Dunstkreis brachen Marburgs knochenkonservatives Erbe auf und halfen eine Uni-Stadt zu modernisieren, die geprägt war von schlagenden Burschenschaften und einer Elite, die sich gegen Veränderung sperrte. Klar, die Burschis bewohnen noch immer die schicken Villen in der Oberstadt und auch zu meiner Zeit spürte man noch die Spannungen zwischen Tradition und Erneuerung. Aber es gab zumindest nie Stillstand, alles wurde ausgehandelt und nichts einfach so hingenommen. Die Universität und die Stadt rangen damals wie heute um ihre Zukunft, aber zu ihren Bedingungen, und schon gar nicht um jeden Preis.
Dank der BioNTech-Millionen konnte Oberbürgermeister Thomas Spies ein Amazon-Zentrum vor den Toren der Stadt verhindern, ein Konzern der nun wirklich gar nichts zum Wohle des Planeten beiträgt und nur ausbeutet. Immerhin. Außerdem will Marburg klimaneutral werden bis 2030. Wie das gelingen kann, sieht man in der Bahnhofsstraße. Die Fassade des Radiologie-Zentrums, ein stadtbekannter Schandfleck in 70er-Jahre-Beige, spiegelt inzwischen futuristisch, ist bedeckt mit dunklen Solarpanelen und produziert sauberen Strom. Das Besondere: Das Ganze ist ein so genanntes Bürgerwerk. Bei diesem Konzept können Privatleute oder gemeinnützige Organisationen einzelne Photovoltaik-Module kaufen und bekommen im Verlauf der nächsten zwanzig Jahren den Erlös aus der Stromerzeugung. Solche Ideen entstehen in Marburg. Eben wegen seiner Tradition, seiner Denkweise. Laut dem Institut für Mittelstandsforschung in Bonn gibt es kaum irgendwo in Deutschland mehr Gründungen pro 10.000 Einwohner*innen als in Marburg-Biedenkopf. Nicht mal in Berlin, wo ich heute lebe. Hier in der Hauptstadt hatte man sich einst den Satz „Arm, aber sexy“ auf die Fahnen geschrieben. Arm ist Marburg jedenfalls nicht, weder an Steuern, noch arm an Ideen oder an Menschen, die hinterfragen, streiten, neu denken – irgendwie auch im Sinne der heiligen Elisabeth. Und sexy sowieso – auch wenn meine geliebten Philfak-Türme inzwischen leer stehen. Was soll’s, nichts hält ewig.