Dezember 2022
Wie bildet sich Marburg?!
Willkommen bei der Denkfabrik!
Wie wollen wir die Zukunft Marburgs denken und gestalten? Darum geht es im Stadtjubiläum bei „Marburg erfinden“ auf unterschiedliche Weise, wie etwa beim Marburg-Quiz und ganz aktuell mit der Plattform Matching Marburg, auf der jede*r spannende Ideen einbringen und dafür Mitstreiter*innen suchen kann. Und hier mit der Denkfabrik! Sie ist eine Einladung an Marburg, sich darüber Gedanken zu machen, wie wir in Zukunft in Marburg leben wollen, was schon gut ist, was noch besser werden soll und was jede*r dazu beitragen kann. Sie wird monatlich aktuelle Themen aufgreifen, die sich aus den Auswertungen des Marburg-Quiz ergeben haben. Die Anzahl der Quizteilnehmer*innen geht inzwischen auf die 5000 zu, so dass das Quiz, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne repräsentativ, dennoch ein Stimmungsbild von dem ist, was viele Marburger*innen bewegt.
Das Thema, das wir diesen Jahreswechsel diskutieren, ist eines, das in Marburg dank der Philipps-Universität omnipräsent ist: Das Studieren. Autorin Katharina Hagena studierte Deutsch und Englisch in Marburg, London und Freiburg. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Hamburg, schreibt Romane, unter anderem Der Geschmack von Apfelkernen, und Sachbücher, zuletzt Herzkraft. Ein Buch über das Singen.
Die ästhetischen Bilder verschiedener Universitätsgebäude in unserer Galerie stammen aus dem Buch Marburg Brutal von Susanne Saker, das 2022 erschienen ist.
Feedback und Gedanken zum Thema können Sie uns gerne mailen.
Vom Fallen und Fragen
von Katharina Hagena
Marburg ist eine kleine Stadt mit einer großen Uni. Für mich war es der ideale Ort, um zu lernen, wie man vergleichsweise unbeschadet erwachsen werden kann und dabei womöglich trotzdem noch etwas über die Dinge erfährt, die man studiert.
Als ich mit achtzehn Jahren nach Marburg zog, wusste ich nichts. Von nichts. Als ich zwei Jahre später von Marburg weiter nach London zog, kam es mir immer noch vor, als wisse ich nichts von nichts, aber da wusste ich wenigstens schon, dass das Bewusstsein des Nichtswissens Teil der Bewusstseinsbildung ist.
Meine Kindheit auf einem Dorf bei Karlsruhe war sehr behütet gewesen, der Umzug in ein acht Quadratmeter großes Zimmer im Carl-Duisberg-Haus unweit des Schlosses bedeutete einen gewaltigen Schritt. Auf den Linoleumboden meines Marburger Zimmers schüttete ich im ersten Semester ein paar Tüten trockener Blätter, die ich im Wald hinterm Haus gesammelt hatte. So konnte ich schon morgens nach dem Aufstehen barfuß durch das Herbstlaub rascheln. Ich nannte es mit Rilkes Worten „unruhig wandeln, wenn die Blätter treiben“.
Eigentlich war ich die ganzen zwei Jahre lang in einem Zustand des unruhigen Wandelns, was sich in Euphorie- und Verzweiflungsattacken, in einem übertriebenen Bewegungsdrang und zahlreichen Stürzen und Unfällen regelmäßig entlud. Es gab Zeiten, da rannte ich zweimal täglich um den Dammelsberg. Aber da ich gleichzeitig auch ständig von irgendwo herunter- oder in etwas hineinfiel und daher oft Gipsverbände trug (es waren die Achtziger, da wurde alles, was nicht schnell genug auf den Bäumen war, sofort für drei Wochen eingegipst), bin ich so viel wohl doch nicht gerannt.
Im zweiten Semester zog ich von dem Acht- in ein Zehn-Quadratmeter-Zimmer. Da war ich schon sehr reif, deshalb war Schluss mit dem Blätterrascheln. Außerdem hatte ich festgestellt, dass sich Würmer und Spinnen gern in Laub verstecken. Doch beide Zimmer schauten hinunter auf die Stadt, die bei Dunkelheit verheißungsvoll heraufglitzerte. Und auf dem Berg gegenüber stand der Spiegelslustturm umringt von Waldesschwärze.
Im Haus wohnten Menschen aus der ganzen Welt, ein indischer Student war mit einer finnischen Studentin verlobt, sie zeigten Fotos herum, von ihm mit Wollmütze im finnischen Schnee und ihr im Sari auf einem indischen Markt. Ich stelle mir vor, dass sie heute noch zusammen sind und genau in der Mitte zwischen Finnland und Indien leben (also irgendwo in Kasachstan), aber ich glaube nicht recht daran.
Trotzdem: Diese Vermischung von so vielen Kulturen auf so engem Raum gibt es nur in Universitätsstädten. Und nur in kleinen Städten mit großen Unis. Alle haben Lust, etwas von den anderen zu erfahren und zu lernen, wie sie kochen, was sie fürchten, wonach sie sich sehnen, wofür sie brennen. Nicht einmal in London habe ich wieder mit so vielen verschiedenen Menschen aus so vielen verschiedenen Kulturen einen so intensiven Austausch gepflegt wie in Marburg. Wenn eine Stadt so groß ist wie London, sieht man zwar viel mehr unterschiedliche Leute, aber man lernt sie nicht kennen. In Marburg schon. Man kann es gar nicht vermeiden. Nach drei Tagen beginnt man verlegen Leute zu grüßen, denen man in den drei Tagen schon neun Mal zufällig begegnet ist (der Zufall ist auch ein Sturz). Das ist manchmal anstrengend, aber wenn du gern eine Person wiedersehen möchtest, die dir nett, schön und interessant erschien, musst du keine Angst haben. Du wirst sie morgen, spätestens nächste Woche wiedertreffen, im Supermarkt, in der Mensa und auf jedem Fall im Eiscafé in der Wettergasse.
In Marburg lernte ich ebensoviel über Palästina und Israel wie über Shakespeares Kaufmann von Venedig, so viel über den Konflikt zwischen Irland und England wie über den Artusroman. Allerdings lernte ich vor allem, indem ich in fast jedes Fettnäpfchen stolperte, das sich vor mir auftat. So nannte ich eine Irin englisch und schwärmte einem Palästinenser von einem Klezmerkonzert vor. Ich war wie Parzival (in den Büchern III-V): jung, tumb, voller guter Absichten, was bekanntlich immer auf das Gegenteil der Absichten hinausläuft. Mein politisches Bewusstsein schärfte sich hier nicht allein durch den scharfen Geruch frischer Eddingstifte auf Demonstrationsbannern, die im Eingang der PhilFak hingen. Marburg war für mich ein Ort, an dem ich aus Fehlern lernen und aus Schaden, wenn auch nicht klug, so doch klüger werden durfte.
An der Philipps-Universität lernte ich einiges über Literatur. Aber ich lernte auch etwas über das, was Literatur vermag. Über die Bedeutung von Einblicken in das Leben derer, die wir nicht sind und niemals werden können. Ich lernte, dass Identifikation kein notwendiges Kriterium ist, um fremde Literaturen zu verstehen. Oder fremde Menschen. Genaues Lesen, genaues Zuhören, bringen einen viel weiter. Und wie Parzival habe ich irgendwann gelernt, dass es nicht darauf ankommt, die richtige Antwort zu kennen, sondern die richtige Frage zu stellen.